Was - Waere - Wenn
Moral vor Blutsverwandtschaft walten zu lassen, und eilt seinem
Schwiegersohn hinterher. Aber das Lustigste ist, wie Moritz mit halb
heruntergelassener Hose wortlos an mir vorbeistürzt und den beiden
hinterherhechtet.
»Dirk«, höre ich ihn durch die Nacht rufen, »Herr von der Mark! So
lassen Sie mich doch erklären …!« Während mein Mann versucht, den Auftrag für
seine Firma zu retten, schiebt Isa in aller Seelenruhe ihren Rock wieder nach
unten. David beobachtet es lechzend. Sie kommt auf mich zu, lächelt süßlich und
bleibt direkt vor mir stehen.
»Nimm’s nicht tragisch, Charly«, sagt sie und schiebt noch einmal
ihren Rock zurecht. »Du und Moritz – das war doch sowieso nie was. Er braucht
eine Frau wie mich. Hat er immer gebraucht.«
»Da hast du wohl recht«, stimme ich ihr zu und hauche ihr einen Kuß
auf die Wange. »Und weißt du was: Ich bind dir noch ein Schleifchen drum.«
Als ich ganz langsam, Schritt für Schritt, ein letztes Mal durchs
Haus nach oben ins Schlafzimmer gehe, sehe ich noch Heike, die sich soeben am DJ -Pult des Mikrophons bemächtigt hat und auf einen Tisch
geklettert ist.
»Ihr seid alles Langweiler«, brüllt sie, »Langweiler und Spießer!
Und Arschlöcher! Jawoll!« Mit diesen Worten fällt sie vom Tisch. Rums.
Der Overall, die Unterwäsche und die Turnschuhe liegen noch
immer in der hintersten Ecke des Schranks. Gut, daß ich die Sachen aufbewahrt
habe. Ich ziehe sie an, will nur das mitnehmen, worin ich gekommen bin.
Gerade als ich gehen will, fällt mir noch etwas ein. Ich gehe zu
meinem Nachttisch, ziehe die Schublade auf und suche nach der Visitenkarte von
New Life. Nicht, daß ich sie noch einmal brauchen werde. Nur als Erinnerung. Es
liegt in meiner Hand, mein Leben zu ändern, und ich habe schon viel zu lange
damit gewartet. Ich durchsuche die Schublade, aber ich kann sie nicht finden.
Dabei weiß ich genau, daß ich sie am Tag meiner Ankunft hineingelegt habe.
Fahrig wühle ich in dem Sammelsurium aus Kopfschmerztabletten,
Taschentüchern und was man sonst noch so im Nachttisch aufhebt herum. Aber sie
ist weg. Ob Moritz sie genommen hat? Sähe ihm ähnlich, in meinen Sachen zu
schnüffeln. Energisch ziehe ich die Schublade aus ihren Scharnieren und kippe
den gesamten Inhalt auf dem Teppichboden aus. Nichts. Ich beuge mich vor und
spähe in das Schränkchen. Ganz hinten liegt etwas, ich greife danach.
Es ist ein dickes, kleines Tagebuch mit zierlichem Schloß.
»Charlotta Maybach« steht darauf, und es ist ganz eindeutig meine Handschrift.
Ein Tagebuch? Ein Tagebuch von mir? Das ich in meinem jetzigen Leben
geschrieben habe? Und wo habe ich dann wohl den Schlüssel versteckt? Egal,
beschließe ich, ist ja meins. Mit einem Ruck breche das Schloß auf.
»Liebe Charly«, steht auf der ersten Seite in verblaßter Tinte. Ein
Eintrag vom 15. Juni 1989. Da war ich sechzehn! Hastig blättere ich das Buch
durch. Alle Einträge beginnen mit meinem Namen. Sie sind zwar in großen
zeitlichen Abständen gemacht worden, aber dafür sehr regelmäßig, etwa jeden
Monat einer. Bis zum 6. Mai 2003. Dem Tag vor meiner standesamtlichen Trauung.
Der Tag vor dem Klassentreffen, mit dem alles begonnen hat.
Meine Hände zittern vor Aufregung, als ich den letzten Brief an mich
selbst lese. Als ich damit fertig bin, stehe ich auf und lasse das Buch
aufgeschlagen auf dem Bett liegen. Ich brauche es nicht mehr, ich weiß jetzt
alles, was ich mich in den letzten Wochen gefragt habe. Dann ziehe ich die
Schlafzimmertür hinter mir zu und gehe. Draußen auf der Straße sehe ich mich
nach einem Taxi um, aber daran ist um diese Uhrzeit und in dieser Gegend wohl
nicht zu denken. Und Geld habe ich ja auch keins. Dann eben zu Fuß. Ich
spaziere die dunkle Straße entlang, der Partylärm hinter mir wird mit jedem
Schritt leiser. Ich atme tief durch, zum ersten Mal seit Wochen.
Als ich schon fast die Hauptverkehrsstraße erreicht habe, höre ich
auf einmal ein Motorengeräusch hinter mir und drehe mich um. Ein Golf kommt
herangeknattert und bleibt direkt neben mir stehen.
»Charly!« ruft Julie mir durch das heruntergekurbelte
Beifahrerfenster zu. »Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?«
»Gern!« Lachend steige ich ein. Erst da bemerke ich die total
besoffene Heike, die quer über den Rücksitz liegt und immer noch vor sich hin
brabbelt. »Spießer, Langweiler!«
»Hätte ich sie da etwa liegenlassen sollen?« kommentiert Julie
meinen fragenden Blick.
»Nee«, antworte ich. Dann
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