Was will man mehr (German Edition)
unseren Sohn da sein
Als frischgebackener Familienvater kann ich mich nicht länger bedenkenlos jeder Gefahr aussetzen. Noch vor kaum einer Stunde habe ich in einem harten Kampf gegen einen Greis in Unterhose leichten Herzens Leib und Leben riskiert. Damit ist jetzt Schluss. Ich muss daran denken, dass ich im Kongo Frau und Kind habe.
Für den Rückweg nehme ich deshalb den Bus. Bei eventuellen Schwierigkeiten kann ich so immerhin den Fahrer zu Hilfe rufen. Nebenbei wäre es für mein Selbstwertgefühl überhaupt nicht gut, zweimal am gleichen Tag eins auf die Mütze zu kriegen. Das steht zu befürchten, falls mir der Greis, dem Beckett noch Geld schuldet, zufällig erneut über den Weg läuft.
Der kostenlose Stadtplan, den ich irgendwo unterwegs mitgenommen habe, erweist sich als nutzlos. Die in winziger Schrift gedruckten Angaben kann ich nur entziffern, indem ich mich konzentriere wie ein Biathlet am Schießstand, wobei ich in ganz ähnlicher Weise meinen Puls unter Kontrolle kriegen muss, weil ich mich maßlos darüber aufrege, dass solcher Mist überhaupt gedruckt wird. Der Plan bildet obendrein nur jenen Teil von London ab, in dem ich mich gerade nicht befinde. Außerdem kostet das Entziffern so viel Zeit, dass ich mehrmals das Umsteigen verpasse.
Stunden später bin ich mit Hilfe eines neuen Plans, den ich in einem Zeitungsladen geklaut habe, immerhin auf dem richtigen Weg. Inzwischen neigt sich der Tag dem Ende zu. Ich sollte meine Kenntnisse des öffentlichen Londoner Nahverkehrs jedenfalls dringend vertiefen, wenn ich nicht den Rest meines Lebens in Bussen und Bahnen verbringen will.
Als der Fahrer mich weckt, weil wir die Endstation erreicht haben, ist es kurz vor Mitternacht. Ich hatte nach Kräften versucht, wach zu bleiben, um nur ja meine Haltestelle nicht zu verpassen, aber die Müdigkeit hat gesiegt. Beim Aussteigen fällt mir auf, dass der indische Busfahrer mir kaum bis zur Brust reicht. Von der Statur her würde er problemlos als Erstklässler durchgehen. Statt mir zu helfen, hätte er sich im Falle einer Schlägerei wahrscheinlich in einem Gepäcknetz verkrochen.
Der letzte Bus in die andere Richtung ist seit fünf Minuten weg. Mir steht nun ein langer Fußmarsch bevor, weil ich einen beträchtlichen Teil der Strecke zurückgehen muss.
Zwei Stunden später erreiche ich endlich mein Ziel. Ich bin fix und fertig. Nach dem Nickerchen im Bus fühlte ich mich angenehm erfrischt. Jetzt bin ich wieder so hundemüde wie zuvor. Obendrein macht mir Sorgen, dass es schon so spät ist. Ich möchte auf gar keinen Fall die kleine Mary-Ann noch einmal aufwecken. Andererseits muss ich mich irgendwie bei Iris bemerkbar machen, wenn ich ins Haus will. Vielleicht ist sie ja noch wach, hoffe ich und betrete den Garten. Doch im Cottage ist alles dunkel. Nur eine winzige Außenleuchte erhellt die Veranda. Ich erwäge schon, die Nacht auf einer Sonnenliege zu verbringen, da fällt mein Blick auf einen Brief. Er klebt an der Eingangstür. In großen schwarzen Lettern ist mein Name auf dem Umschlag zu lesen.
Iris hat den Brief geschrieben. Sie ist mit Mary-Ann heute nach Deutschland gefahren, um Timothy zu überraschen. Die Mitfahrgelegenheit hat sich spontan ergeben. In ein paar Tagen will Iris zurück sein. Ich soll mich in der Zwischenzeit ganz wie zu Hause fühlen und Audrey herzlich grüßen. Den Schlüssel zum Cottage hat Iris bei Mrs Leary deponiert. Die wohnt gleich nebenan. Bis Mitternacht kann ich bei ihr klingeln.
Ich schaue nach links und rechts zu den Nachbarhäusern. In beiden ist kein Licht zu sehen. Auf welcher Seite MrsLeary auch wohnen mag, inzwischen ist sie wohl zu Bett gegangen. Ich kann es ihr nicht verdenken. Im Gegenteil. Am liebsten läge ich ja selbst schon seit Stunden im Bett. Dann bleibt also doch nur die Sonnenliege. Was soll’s? In den kommenden Tagen habe ich viel Zeit, um mich auszuschlafen.
Ich lasse mich auf die Stufen der Veranda sinken und wende mich wieder Iris’ Brief zu. Es stellt sich heraus, dass ich mich zu früh gefreut habe. Die schlechte Nachricht hat Iris sich bis zum Schluss aufgespart. Sie lautet, dass morgen Abend Elisabeth von Beuten eintreffen wird. Die Patriarchin möchte sich um ihre schwangere Enkelin kümmern. Iris und Elisabeth wissen offenbar beide noch nicht, dass das Kind längst da ist. Ich rechne nicht damit, dass Audrey mit dem Säugling binnen der nächsten Tage die Strapazen eines Fluges auf sich nehmen wird. Das heißt also, ich werde eine
Weitere Kostenlose Bücher