Was wir erben (German Edition)
Flüchtling. Mein Junge, fuhr er fort, schön, wirklich schön, dass du da bist, dass es dir gut geht. Meine Schwägerin hat uns bereits informiert, wir sind im Bilde, schön, Dich hier zu haben, Junge, gar nicht schön, die Sache mit Deinem Vater, na schön, was will man machen, so ist das Leben, sagte er und drückte den Vater wieder in den Sessel. Der Onkel stand vor ihm, schaute auf ihn herab, knöpfte sich sein beigefarbenes Jackett zu und sagte: Schön, also wir haben uns da was ausgedacht, wir wollen natürlich nicht, dass du dich hier bei uns langweilst, schön, das wissen wir schon, dass wir dir etwas bieten müssen, also schön, wir haben uns gedacht, du willst dein Abitur machen, das ist schön, und das sollst du auch, also du kannst gleich morgen in ein schönes, wirklich schönes Internat gleich hier in der Nähe, dort haben sie noch Plätze frei, dort werden sie dich nehmen und dich zu einem westdeutschen Abiturienten machen. Am nächsten Morgen fuhr der Onkel mit dem Vater in seinem Auto in einen kleinen Ort in der Nähe von Frankfurt und übergab ihn dort an der Pforte eines Klosters einem alten, hagerenJesuitenpater. Unser Protestant, sagte der Pater und verpasste dem Vater einen Klaps auf den Hinterkopf. Er war ein Flüchtling. Die Pater prüften ihn zuerst in allen Fächern und dann beschlossen sie, dass er noch ein Jahr Vorbereitungszeit brauche bis zu den Prüfungen. Als er das Jahr bei den Jesuiten überstanden hatte, kam der Onkel wieder und brachte ihn nach Frankfurt. Dort schrieben sie ihn zuerst an der Universität ein – Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre – und dann brachte der Onkel den Vater zu einem Verbindungshaus in der Frankfurter Altstadt. Dort sollte der Vater wohnen. Er fand schnell Anschluss unter den Verbindungsbrüdern. Trinken war seine Sache. Der Onkel übergab dem Vater jeden Monat einen Umschlag mit Geld. Davon sollte er leben. Der Vater wusste aber nicht, wie man mit Geld haushaltet. Das hatte ihm niemand beigebracht. Und so war spätestens Mitte des Monats nichts mehr da. In der Verbindung hatte er schnell einen wohlhabenden Freund gefunden. Schnieder. Der lieh ihm Geld.
Von Schnieder hat die Mutter oft gesprochen.
Irgendwann wurde es Schnieder zu bunt. Er wollte sein Geld wiedersehen. Aber der Vater wollte keinen hundsgewöhnlichen Job annehmen, er, der Fabrikantensohn, der Widerstandskämpfer, der Jesuitenschüler, der Student.
1953 heuerte der Vater als Komparse beim Film an. Schnieder war auch dabei. Sie fuhren mit dem Zug vonFrankfurt nach Fulda. Dort sammelten sich alle Kleindarsteller vor dem Eingang des Stadtschlosses und wurden verschiedenen Szenen zugeteilt. Sie erfuhren erst vor Ort, was gedreht wurde:
Königliche Hoheit
, Thomas Mann. Alle Außenaufnahmen sollten in kurzer Zeit in diesem heil durch den Krieg gekommenen Barockschloss gedreht werden. Der Vater bekam einen historischen Gehrock, einen Zylinder und einen Schirm verpasst und sollte als Spaziergänger, mit einer Frau am Arm, vor der Fassade des Schlosses entlanglaufen. Film heißt warten. Er und Schnieder lungerten stundenlang vor dem Schloss herum und versuchten ab und an, den Stars nahe zu kommen. Der Vater besorgte etwas zu trinken, die Stunden wurden kürzer und unterhaltsamer. Ab und zu ein Blick auf Ruth Leuwerik, Dieter Borsche, Lil Dagover. Das reichte wieder für ein paar Stunden Unterhaltung. Zur Auflockerung sollten sie auf Geheiß eines Produktionsmitarbeiters Schlendern üben, aber sie verfielen immer wieder in die Lethargie der Wartenden. Dem Vater war das recht. Mit jeder Stunde wurde sein Engagement lukrativer.
Die Mutter machte damals gerade ihre Ausbildung als Sekretärin. Da das Rathaus im Schloss untergebracht war, beobachtete sie die Dreharbeiten aus einem Fenster des Schlosses. Der Vater spazierte genau vor ihrem Fenster auf und ab. Die Mutter sprach ihn an, ob das nicht furchtbar langweilig sei, unentwegt auf und ab zu laufen. Der Vater parierte geschickt. Die beiden flirteten. In ihrer Pause kam sie runter und sie verabredeten sich für den nächstenTag. Und dann war sein großer Auftritt. In dem Film gibt es eine Szene, bei Minute 20:30, da reitet Dieter Borsche als Königliche Hoheit von Grimmburg durch den Hof des Schlosses. An seiner Seite zwei Minister. Vor dem Eingang spielt die Staatskapelle, das Volk wartet auf den neuen Regenten. Man kann sehen, wie nervös Borsche war. Der Schimmel, auf dem er sitzt, ist unruhig. Borsche nestelt an den Zügeln
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