Was wir erben (German Edition)
ich nicht vorhabe, auszusteigen.
Holger ist nach Hause gekommen. Er sitzt in der Küche und trinkt Bier. Er hat sich über die Jogginghose gewundert. Ich habe ihm die Pissgeschichte nicht erzählt. Wenn er vor seinem Chefarzt in die Hose machen würde,dann würden sie ihn wahrscheinlich eine Station weiter auf die Psychiatrie schicken. Oder in die Urologie. Im Theater wundert sich niemand. Irgendetwas hindert mich daran, zu Holger in die Küche zu gehen und ihm von der Probe zu erzählen. Ich fühle mich gelähmt. Ich bin dabei, ihn aus meinem Leben auszuschließen. Holger und ich reden kaum noch miteinander. Ich bin neidisch auf ihn: Er hat eine Arbeit, die ihm Spaß macht. Er hat Freunde, mit denen er gerne Zeit verbringt. Er wünscht sich ein Kind. Er denkt nicht andauernd über sich und seine Vergangenheit nach. Sein Problem ist nur: Er ist mit einer Frau zusammen, die nicht mehr weiß, ob sie dieses Leben selbst lebt. Die nicht mehr versteht, warum sie ist, wie sie ist. Sie würde gerne zu Holger in die Küche gehen, ihn umarmen und ihm zärtlich ins Ohr flüstern: Wir machen alles anders. Aber sie traut sich nicht, weil sie Angst hat, etwas Falsches zu tun. Sie findet, dass sie eine Schachtelpuppe ist: Jede Puppe sieht gleich aus. Das Original ist von der Kopie nicht zu unterscheiden. Der Vergleich hinkt. Wie immer. Aber was heißt
echt
, wenn alles gespielt ist?
Alle Schauspieler lügen, sagt ein Schauspieler.
Der tote Mann im Schwimmbad war echt.
Meine nasse Hose war echt.
Dieser Mann in der Küche, der den Namen Holger trägt, der ist echt.
Der Vater hat uns nachts aus dem Bett gezerrt. Er hat uns gezwungen, uns zu Ute ans Bett zu setzen und zu beten.Ute ist aufgewacht und hat sich gefreut, dass wir alle dasaßen. Während wir gebetet haben, hat sie gelacht und fröhlich in die Hände geklatscht. Der Vater ist nach einer Weile eingeschlafen und lag dann röchelnd auf der Erde. Mein Kopf im Schoß der Mutter.
In der Eifel wurde Ute in die Obhut eines katholischen Pflegeheims übergeben. Das war die Bedingung der Mutter, dem Vater dorthin zu folgen. Ute hat ein eigenes Zimmer und wird morgens mit dem Bus für ein paar Stunden in eine Behindertenwerkstatt gebracht. Dort arbeitet sie in der Druckerei. Sie sortiert bedruckte Luftballons nach Farben.
Der neue Kommandeur setzte dem Vater die Pistole auf die Brust. Entweder Entzug oder Entlassung. Der Vater entschied sich für den Entzug: Die ominöse Kur. Nach einem halben Jahr war er wieder da. In einem großen Pappkarton, den er nach seiner Rückkehr achtlos in den Flur gestellt hatte, waren die Ergebnisse seiner Ergotherapie verstaut. Was ich darin gefunden habe: einen braunen Tonaschenbecher, über dessen Schale ein grob modellierter Totenkopf thronte. Ein rot lackierter Trinkbecher. Ein geschnitztes Holzkreuz mit Jesusfigur ohne Arme. Ein Brotkorb aus Weiden, dessen Rand mit Nägeln (!) verziert war. Der Vater interessierte sich nicht sonderlich für die Sachen. Ich stellte die Gegenstände in mein Zimmer auf den Boden. Irgendwann kam der Vater und nahm sich den Aschenbecher und stellte ihn auf seinen Schreibtisch. Er rauchte drei Schachteln (Lux) am Tag. Die anderen Dinge überließ er mir.
Die nächsten Jahre verliefen alle gleich. Der Vater fuhr morgens um halb sieben in die Kaserne und kam am Nachmittag um halb vier nach Hause. Daheim tauschte er die Uniform gegen einen seiner Anzüge und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Er hatte während der Therapie beschlossen, sein abgebrochenes Studium wieder aufzunehmen. Zu diesem Zweck hatte er sich an der Fernuniversität eingeschrieben. In regelmäßigem Rhythmus kamen die Studienunterlagen ins Haus. Der Vater verbrachte jede freie Minute in seinem Arbeitszimmer und ich breitete regelmäßig meine Malsachen im Flur davor aus. Von drinnen hörte ich die Schreibmaschine klacken. Manchmal drang seine tiefe Stimme durch die Tür. Er hatte die Angewohnheit, sich selbst seine Studientexte laut vorzulesen. Ich lag da, malte und lauschte.
Das Dorf lag am Fuße eines Hügels, auf dem eine mittelalterliche Burg stand. In dem Wald um die Burg herum gab es einen Tierpark mit Wölfen, die heulten, wenn Vollmond war. Ich hatte rasch Anschluss gefunden an die Dorfkinder und verbrachte die meiste Zeit mit ihnen im Freien. Dreimal die Woche fuhr ich mit dem Bus zum Schwimmtraining. Einmal im halben Jahr ging ich mit meinem Zeugnis zum Vater und er zückte sein Portemonnaie und belohnte mich für die guten Noten. Die
Weitere Kostenlose Bücher