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Was wir erben (German Edition)

Was wir erben (German Edition)

Titel: Was wir erben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: BjÖrn Bicker
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Mutter nahm mir das Geld wieder ab und sagte: Davon kaufen wir neue Hefte.
    Der Vater ging wieder in die Kirche und ließ sein SPD-Parteibuch erneuern. Er ließ sich in den örtlichen Gemeinderatund in den Kirchenvorstand wählen. Er wurde schließlich Stellvertretender Bürgermeister und begann eine theologische Laienausbildung, die mit seiner Ordination endete. Der Vater predigte von da an sonntags in der Kirche, taufte Kinder, hielt Hochzeiten und Begräbnisse ab.
    Ansonsten saß er mit Anzug und Krawatte vor dem Fernseher. Auf seinen Knien lagen mindestens zwei Bücher und eine Zeitung, in denen er abwechselnd las: Luther, Kant, Nietzsche, Tucholsky, Popper, Programmschriften der SPD, Der Vorwärts, Die Zeit. Manchmal kritzelte er etwas mit einem kurzen Bleistift an den Seitenrand eines Buches. Einmal, der Vater war eingeschlafen und schnarchte laut, schlich ich mich an ihn heran und zog ein Buch von seinen Beinen. Ich wollte wissen, was er da hineinschrieb. Es waren Kolonnen von Zahlen, die, zur Addition und zur Subtraktion aufgelistet, aussahen wie wackelige Hochhäuser. Ein einziges Wort stand da: Schulden.
    Heute auf der Probe haben alle so getan, als sei nichts geschehen. Ich habe gespürt, dass die Kollegen Bescheid wussten. Wir haben wieder am Tisch gesessen und geredet. Nele war bemüht, aufgeräumt rüberzukommen. Die Assistentin zwinkerte mir andauernd zu. Ich habe mich an der Diskussion über die Szene, die später geprobt werden sollte, nicht beteiligt. Ich habe den Anschein erweckt, als würde ich alles mit großem Interesse verfolgen. Ab undzu habe ich etwas in mein Notizbuch geschrieben. Meistens das Wort
Schulden
. Jörg, der Dramaturg der Produktion, war auch da. Sicher hatte man ihm von gestern erzählt und ihn gedrängt, zur Probe zu kommen. Jörg ist ein netter Typ, der es mit allen gut meint. Das ist schon die vierte oder fünfte Produktion, die wir zusammen machen. Eine Zeit lang schien es, als würden wir uns anfreunden. Wir waren ein paarmal zusammen im Kino, einmal sogar gemeinsam mit Holger und Jörgs Freundin, die auch Ärztin ist, allerdings Neurologin. Der private Kontakt ist wieder eingeschlafen. Jeder verschwindet andauernd in alles verschlingenden Probenarbeiten, die es oft monatelang unmöglich machen, auch nur einen einzigen privaten Termin hinzukriegen, der über die
soziale Grundversorgung
, wie Holger das nennt, hinausgeht. Holger fragt mich alle paar Wochen nach dem
netten
Dramaturgen und seiner
gut aussehenden
Freundin, aber mehr, um mich zu ärgern, als aus wirklichem Interesse an den beiden. Ich gönne ihm den Spaß und spiele die eifersüchtige Freundin, empöre mich über seinen Vorschlag, sich alleine mit Jörgs Freundin treffen zu wollen, und erzähle ihm Schauergeschichten über den psychischen Zustand der gut aussehenden Neurologin, die den Namen Uticha trägt. Am Ende sagt Holger: Dann bleibe ich doch lieber bei Dir. Dein Name gefällt mir besser. Jedenfalls war ich froh, dass Jörg da war. Nach einer Stunde müdem Gespräch ist der Schauspielkollege, der den Prinzen spielt, also den, der sich in mich, die abstoßende Yvonne, verliebt, überraschend und ungestümaufgestanden. Ruckartig und urplötzlich ist er nach oben geschnellt und hätte beinahe den Tisch umgestoßen, auf dem Kaffeetassen, Obst, Süßigkeiten und Arbeitsmaterialien verteilt waren. Er müsse das Wort ergreifen, und das tue er nicht oft, das wüssten die anwesenden Kollegen, die ihn besser kennen, aber diesmal sei es an der Zeit. Er beobachte nun schon seit einer ganzen Weile, dass sich manche Kollegen an den Proben und den Diskussionen sehr intensiv und mit vollem Engagement beteiligten und andere sich eher zurückhielten. Er räusperte sich. Das störe ihn
massiv
. An seinem Hals wucherten rote Hautflecken, die sich aus dem Hemd Richtung Kopf nach oben ausbreiteten, aber er tat so, als sei er die Ruhe selbst. Sein Körper machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Stille. Alle sahen ihn an. Er schaute sich um und schien die Luft anzuhalten. Niemand sagte etwas. Ich war überrascht von diesem Auftritt, wusste aber sofort, worum es ging. Und dann platzte es aus ihm heraus. Es könne nicht sein, dass die Kollegin, die die Titelrolle zu spielen habe, die ganze Zeit die Klappe halte. Es sei ein absoluter Affront den Kollegen, ja sogar
der Sache
gegenüber, dass ich so tue, als würde mich das alles nichts angehen. Er fühle sich zunehmend verarscht. Und er habe, das müsse er jetzt in aller

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