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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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erschrocken auszusehen, lief er ins Wasser, warf die Tasche ins Boot und kletterte hinterher.
    Ein leichter Wind trieb sie auf die Mitte der Wasserfläche, wo sie sich einige Male drehten. Ganz langsam nur nahm die Strömung sie mit nach Norden, auf die Ile Verte zu. Überall um sie herum war noch Land, und dennoch fühlte es sich an wie auf hoher See. Bald wären sie raus aus der Stadt, in ein paar Tagen wahrscheinlich an der Küste, wo sie an Neufundland vorbei auf den Ozean trieben. Wenn sie genug Schwung hatten, würde es über den Atlantik reichen, in den Ärmelkanal und dann über Weser oder Ems die Hase hinauf und nach Osnabrück. Sie lebten ja alle am selben Wasser. Sie würden vom Regen leben, von zutraulichen Möwen und von Fes Nudeln. Falls die Dinger schnell genug wuchsen, könnten sie an Bord eine kleine Nudelbaumplantage errichten, was zugleich Schatten s penden würde.
    Lambert wollte mit ihr zusammen sein. Was änderte es, ob man sieben Stunden zusammen war oder sieben Jahre? Der Unterschied lag nur im Wissen vom Ende. Ob man vor Augen hatte, dass es gleich vorbei war, oder im Glauben lebte, so werde es für immer bleiben. Es war wie beim Tod: Ohne mit der Wimper zu zucken, ertrug der Mensch seine Sterblichkeit, solange sie weit genug entfernt war. Wer nicht wusste, wann er starb, war unsterblich. Erst wenn das Ende naht, kommt der Schreck.
    Der Wind hatte aufgefrischt, er blies nun aus Norden und trieb sie allmählich zurück ans Ufer. Auf halbem Wege stießen sie gegen ein neben ihnen dümpelndes Brett. Fe bückte sich über die Reling und zog es mühsam aus dem Wasser, fast wären sie, als Lambert ihr zu Hilfe s prang, gemeinsam über Bord gegangen. Es war eine Eistafel. Von Hand hatte jemand die Preise ergänzt und einige Sorten durchgestrichen, die offenbar ausgegangen waren. Wenn man die Tafel in die Luft hielt, gab sie ein hervorragendes Segel ab.
    Auf Höhe der Ile Sainte Hélène sagte Fe, dass sie es bis zum Flughafen schaffen könnten. Sie erbot sich, ihn mit dem Halten abzulösen, und er nahm dankbar an, reichte ihr die Tafel und lehnte sich auf der Sitzbank zurück. Die schöne Fe, wie sie ihre nackten Arme in den Himmel hielt, während ihr das Sonnenlicht von hinten in die Haare schien.
    Lambert räu s perte sich. »Klingt vielleicht seltsam, aber du siehst aus wie eine Göttin.«
    Â»Was klingt daran seltsam?«
    Â»Tu nicht so. Ich meine nur: Du hast eine Aureole auf dem Haar und hältst eine Tafel hoch. Im Gegenlicht ist nicht zu erkennen, ob Gebote darauf stehen.«
    Â»Kann es sein, dass du mich mit Moses verwechselst?«
    Â»Ich wusste doch, dass es irgendwas aus der Bibel war. Trieb Moses nicht auch auf dem Wasser herum?«
    Â»Sehr komisch.« Fe verzog das Gesicht zu einer mitleidigen Grimasse. »Mal im Ernst: Weißt du, woran man eine Göttin erkennt?«
    Â»Keine Ahnung, ich bin vorher noch keiner begegnet.«
    Â»Du erkennst sie zunächst an ihren wohlgestalteten Füßen. Falls du Gelegenheit hast, darunterzuschauen, wirst du feststellen, dass sich auf der Fußsohle ein Kreis befindet. Dann wanderst du einfach hoch und hakst ab: Beine wie ein Reh, Brust wie ein Löwe, runde Schultern, der Hals einer Muschel, vierzig Zähne, eine kleine Zunge. Glattes, nach rechts gedrehtes Haar. Eine breite Stirn, ein runder Kopf, die Wimpern einer Kuh. Die Stimme eines S patzes. Wenn du unsicher bist: Götter werfen einen schönen, goldfarbenen Schatten. Und du darfst am ganzen Körper keine Narbe haben.«
    Â»Ich? Was habe ich damit zu tun? Wo hast du das her?«
    Â»Nur falls du selbst noch Pläne haben solltest, Gott zu werden. Es gibt auf der ganzen Welt nur einen einzigen Posten als lebende Göttin, irgendwo in Nepal. Das sind die Eigenschaften, die ein Kind mitbringen muss, um ausgewählt zu werden. Ich habe sie mir für alle Fälle gemerkt.«
    Â»Und das ist alles, was man braucht?«
    Â»Fast. Anschließend müsstest du noch eine Nacht neben einem toten Opferbüffel ausharren, ohne zu weinen.«
    Â»Danke. Ich bleibe lieber Mensch.«
    Lambert hatte nicht alles verstanden, was sie gesagt hatte. Vor allem verstand er nicht, wie man Wimpern herstellen konnte wie ihre. Wie man technisch in der Lage war, eine solche Ausgeburt an Schwerelosigkeit und Grazie zu erschaffen. Es war nichts als eine Reihe kleiner schwarzer Härchen, aber die Art,

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