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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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ihre Hand und hielt ihn Lambert vor die Nase. Er war aschgrau.
    Sie hockten sich in eine Ecke, nach einer Weile breitete Fe ihre Jacke auf den Boden und legte sich darauf, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Lambert wusste nicht, ob es eine Einladung war. Als eine Motte auf seiner Nase landete, wischte er sie weg und legte sich neben Fe.
    Die langsam durch den Raum wabernde Gestalt der Falter, jeder flog für sich, und doch gehörten sie zusammen. Wie sich die Wolke ohne erkennbare Verabredung hob und senkte, ausdehnte und zusammenzog. Ihre unhörbaren Flügelschläge, als müsste mit jeder Bewegung eine kleine Puderwolke unter ihnen zu Boden schweben.
    Aus den Augenwinkeln sah Lambert zur Seite. Was wollte diese seltsame Frau von ihm? Welche Wünsche würde sie ihm erfüllen? Der Gedanke, was er jetzt am liebsten alles mit ihr anstellen würde, nahm ihm den Atem. Er malte sich aus, wie sie sich zu ihm drehte und ihn ansah. Wie sie sich, wenn sie einander lange genug angesehen hätten, auf seine Brust schob und mit dem Gesicht so nah an seines käme, dass ihnen irgendwann gar nichts anderes übrig bliebe. Es waren ziemlich gewöhnliche Dinge, die er sich vorstellte, und dann wieder waren es eher ungewöhnliche, als wären sie ungelenke Vorzeittiere, ineinander verkrallt, schlangenartig übereinandergleitend im Versuch, neue, erstaunliche Arten zu erzeugen. Vor Jahren einmal hatte er auf einer Waldlichtung zwei Weinbergschnecken bei der Paarung beobachtet, wie sie stundenlang ihre nassen Unterseiten aneinanderpressten, ohne sichtbare Bewegung. Er hätte jetzt nichts dagegen gehabt, es ihnen gleichzutun. Aber immer war es in seiner Vorstellung sie, die den ersten Schritt tat, die sich mit einem kleinen Seufzen zu ihm drehte, und vielleicht ging es ihr ebenso, jedenfalls lagen sie beide unbeweglich nebeneinander. Lambert bemühte sich, flach und ruhig zu atmen, um womöglich auf diese Weise endlich seinen Herzschlag beruhigen zu können, während seine Gedanken erregt wie ein Schwarm aufgeschreckter Nachtfalter durch einen plötzlich erhellten Raum flatterten. Unablässig stießen sie gegen die gläsernen Wände, die seine Wünsche gefangen hielten.
    Auf einmal bemerkte er, wie ihre Hände sich berührten, und wieder hätte er nicht sagen können, ob er es gewesen war oder sie oder ob es womöglich ihren Fingern einfach zu viel geworden war, sodass sie sich am Ende selbst auf den Weg gemacht hatten. Warum eigentlich war man erwachsen geworden, wenn einen schon solch eine Kindergartenberührung aus der Bahn warf? Wenn es einem genügte, in einem abgelegenen, halb verdunkelten Raum des Montrealer Zoos auf dem nackten Boden zu liegen und eine fremde Hand zu halten. Auch wenn diese Hand sich so warm und vollkommen und überwältigend anfühlte mit ihrer glatten Haut und den kleinen Härchen, mit dem Muster ihrer Adern, den Senken und Erhebungen der darunterliegenden Knochen, mit ihren Fingern und den Innenseiten zwischen diesen Fingern, die sich so sehr anfühlten wie Schwimmhäute einer Art, die kurz davorstand, vom Land zurück ins Wasser zu gehen, dass Lambert schwindelig wurde.
    Als er die Augen öffnete, sah Lambert, dass die Motten nun überall auf ihnen saßen, auf ihren Bäuchen, Beinen, auf den Armen und selbst auf ihren ineinander verschränkten Händen. Sie hielten beide vollkommen still, schon um die Tiere nicht zu verscheuchen.
    Irgendwann hob Fe den Kopf und sah ihn an, das Gesicht dicht vor seinem.
    Â»Wann fliegst du?«
    Â»Heute Abend.«
    Â»Vielleicht dürfte ich dich zum Flughafen bringen?«
    Â»Es wäre mir ein Vergnügen.«

20
    Was Lambert jetzt brauchte, war ein Trick. Und zwar schnell. Es hieß immer, man könne nicht auf zwei Hochzeiten tanzen. Aber wer sagte das, und warum sollte es nicht gehen, zumindest für ein Tänzchen? Lambert hätte nie gedacht, dass es dabei um seine eigenen Hochzeiten ging.
    Er brauchte Zeit. Eine kleine Extrarunde, irgendetwas mit einem doppelten Boden, in dem er sich mit Fe verkriechen konnte, für einen Tag oder eine Nacht. Sie liefen die Rue Hochelaga entlang, Aerobicstudios, Möbelhäuser, Le Super Club Vidéo 2000 , an jedem Imbiss wiesen »2 pour 1«-Schilder darauf hin, dass es beim Kauf einer einzigen Pizza eine zweite dazugab. Es musste doch möglich sein. Ein Schalttag würde ihm reichen, wie bei Jules Verne, aber

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