Was wir Liebe nennen
Gebäudes waren schmale Leuchtstreifen angebracht, deren Detailzeichnungen mehrere Seiten in An s p ruch nahmen.
Zu Saschas Unglück hatte Viola ihr vor der Abreise nach Deutschland verboten, das Buch mitzunehmen. Also hatte sie bei ihren GroÃeltern stapelweise Notizzettel bemalt, die sie nun übertrug. Seit der gestrigen Rückkehr hatte Sascha ihren Schreibtisch nicht mehr verlassen, selbst das Essen lieà sie sich bringen. Von ihrem Vater hatte sie als Willkommensgeschenk einen Satz Bauzeichnerschablonen vorgefunden. Damit lieÃen sich nicht nur Türschwünge, Wendeltreppen und die kleinen Pfeil s p itzen zur Angabe von Mauerstärken und lichten Höhen mit zuvor ungekannter Akkuratesse hinwerfen, in die Schablonen war auch ein Alphabet gestanzt, mit dessen Hilfe die Beschriftung ihrer Entwürfe eine Nüchternheit bekam, die Sascha ganz offensichtlich gefiel. Sie musste ungeheuer schnell gearbeitet haben, vielleicht in der unbewussten Sorge, dass ihre Kindheit eher zu Ende sein würde als ihr Projekt, aber die Eile nahm den Zeichnungen nicht ihre bisweilen penible Liebe zum Detail. Mit der Besessenheit eines Nagetiers, das vor dem Winter seine Vorräte sammelt, hatte Sascha Ãbersicht s p läne, AusschnittvergröÃerungen und Bildlegenden entworfen. Zwischen den Seiten steckten Zettel mit Entwürfen der Mietverträge, mit denen Sascha das für die AuÃenarbeiten an S p ielplätzen und Pferdeställen notwendige schwere Gerät (Bagger, Presslufthammer, S p ringbrunnenbohrer) besorgen wollte. In ihrer eigenwilligen Sascha s p rache erklärte sie, warum die Geräte direkt an sie ausgehändigt werden müssten, obwohl sie noch ein Kind sei. Viola fand ein mit »Erste Fassung« überschriebenes Blatt, das offensichtlich die Rede zur Eröffnung des Gebäudes enthielt, einschlieÃlich eines Abrisses der Aktivitäten, die die Gäste an diesem Tag der offenen Tür wahrnehmen konnten und was es dabei zu essen geben sollte (»20 Köpfe Blumenkohl«).
Bevor sie das Zimmer verlieÃ, beugte Viola sich zu ihrer leise schnaufenden Tochter hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Auch dies nicht nur aus Rührung oder Liebe, sondern zugleich, um bei dieser Gelegenheit zu prüfen, ob sie womöglich fiebrig war.
Wie alle s pät heimkehrenden Eltern hatte Viola, als sie die Kinderzimmertür leise hinter sich zuzog, einen Anflug von Mitleid mit ihrem einzigen Kind. Sascha lieà es sich nicht anmerken, aber auch ihr hätte es wohl gefallen, ihre Mutter häufiger zu sehen. Andererseits: Auf einmal war sich Viola da nicht mehr sicher. Die Vorstellung, sie hätte beim Entwerfen dieses seltsamen Schulgebäudes neben ihrer Tochter gesessen und mit ihren Vorschlägen dafür gesorgt, dass sich die Seiten des Buches statt mit Zahnbürstenhalterungen mit lachenden Gesichtern und Luftballons füllten, jagte ihr einen Schrecken ein.
Sie blieb jetzt oft länger in der Flugsicherung. Noch s prach niemand es aus, aber bei ihnen herrschte eine gewisse Nervosität. Es hatte UnregelmäÃigkeiten gegeben. Meist bekamen es die Passagiere der betroffenen Flüge nicht einmal mit. Es gab Missverständnisse zwischen Cockpit und Leitstelle, nicht erklärliche Wider s prüche zwischen den von den Instrumenten angezeigten Werten und dem, was die Piloten sahen. Die Arbeit in der Flugsicherung wurde mehr und mehr zu einer seelsorgerischen â Viola sah sich genötigt, in den Funkverkehr einzugreifen, um einfachste Dinge richtigzustellen, was für den Moment Zutrauen brachte, aber auf allen Seiten die ungute Frage aufwarf, warum die Intervention nötig gewesen war.
Sie hatte während ihrer Arbeit in der Flugsicherung einen eigenen Tonfall herausgebildet, den ihre Stimme in Ge s prächen mit anderen Menschen nicht annahm, tiefer und voller, auf eine Weise beruhigend, wie sie zum letzten Mal geklungen hatte, als Sascha nachts noch weinte und sie neben ihr sitzend mit den immer gleichen Worten auf sie einge s prochen hatte. Wenn Viola durch irgendeinen Zufall jemanden traf, der ihre Stimme bislang nur aus den Ohrhörern einer Leitstelle oder eines Cockpits kannte, sah der andere immer ein wenig überrascht aus. Wahrscheinlich klang sie über Funk wie eine Oma bei der Gutenachtgeschichte.
Zuletzt hatte sie probehalber angenommen, sich die allgemeine Unsicherheit nur einzubilden, in Wahrheit sei sie einfach selbst
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