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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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wie sich jedes von ihnen in die Höhe bog, ließ Lambert nur an eines denken: Ich will Liebe. Oder, um genau zu sein: Ich will Liebe machen.
    Als der Wind nachließ, stellten sie fest, dass sich die Eistafel auch als Ruder eignete. Sie paddelten nah am Ufer, wo es keine Strömung gab. Sie saßen jetzt nebeneinander auf der Bank, Lambert machte drei Züge auf seiner Seite, dann reichte er ihr das Brett, und sie machte drei Züge auf ihrer. Es war nicht im engeren Sinne das, was man Sex nannte, aber dicht an Fe gedrängt auf der engen Bank zu sitzen, ihr zuzusehen, wie sie sich mit dem Paddel abmühte, zu wissen, dass sie selbst ihm ebenfalls zusah, wenn er an der Reihe war, ihr Lächeln, wenn sie sich in der Mitte die Tafel reichten, kam schon ziemlich nah heran. In großer Ruhe zog das Land vorüber und sah ihnen zu, sie schauten kaum zurück. Den Treidelpferden hatte man früher auch die Augen verbunden, um sie nicht abzulenken. Wie gleichgültig das Vorwärtskommen wurde, wenn das Ziel nichts anderes war als ein Flughafen, zu dem niemand wollte.
    Â»Ich hätte jetzt tatsächlich gerne ein Eis.«
    Â»Um es mir zu schenken?«
    Â»Nein.« Fe streckte ihm die Zunge heraus, im ersten Moment glaubte Lambert, sie wollte ihn ärgern. Dann sagte sie »Deshalb«, aber weil sie den Mund dabei offen ließ, war es kaum zu verstehen. Sie nahm seinen Zeigefinger und führte ihn zu ihrer Zunge, die nass war und warm, wie von einem Tier. Lambert fühlte die kleine Erhebung, ein winziger, fester Zapfen direkt auf ihrer Zungen s pitze.
    Â»Was ist das?«
    Â»Weiß nicht, war immer schon da. Wenn ich Eis esse, kann ich damit Muster machen.« Sie hatte den Mund noch immer offen, sodass Lambert nur raten konnte, was sie sagte. Er sah wohl etwas überrascht aus.
    Â»Findest du das ekelig?«
    Â»Nein«, sagte Lambert. »Im Gegenteil.«
    Auch als keiner von ihnen mehr etwas sagte, ließ sie den Mund offen stehen, und aus einem Grund, den er selbst nicht verstand, ließ Lambert seinen Zeigefinger noch einen Moment lang auf ihrer Zunge liegen. Vielleicht lag es an den Hormonen, von denen Lambert nicht viel mehr wusste, als dass sie schwer zu kontrollieren waren. Am ehesten ließ sich wohl erkennen, was sie mit einem machten, wenn man auf seine Gefühle achtete. Eigentlich nicht Lamberts Stärke, in diesem Moment aber merkte selbst er, was Sache war.
    Lambert nahm seinen Finger aus ihrem Mund und wischte ihn unauffällig an der Hose ab. Fe schlug vor, dass sie sich beide auf der Eistafel ihre Lieblingssorte aussuchten, sie selbst tat so, als würde sie sich ein Eis nehmen, und leckte daran.
    Wo Lamberts Finger noch nass war von ihrem Mund, s pürte er die kühle Luft. Er wusste nicht, wohin mit dieser anderen Möglichkeit seines Lebens. Vor hundert Jahren hatten irgendwelche Science-Fiction-Autoren eine Theorie der Parallelwelten entwickelt, die einige nicht minder eigenwillige Physiker s päter aufgegriffen hatten. Auf einmal verstand Lambert, was diese Männer angetrieben hatte – sie mussten einfach unerträglich verliebt gewesen sein, um auf solche Ideen zu kommen. Er fühlte sich ihnen verbunden. Für welche Welt er sich auch entscheiden würde – er hoffte, ihnen dort zu begegnen.
    Bei jeder Wahlmöglichkeit gabelte sich ein Weg, und wie auch immer man sich in dieser Welt entschied, es gab eine andere, auf der das Gegenteil galt. Wie unübersichtlich es zwischen all den Möglichkeiten wurde, den kleinen wie den großen. Man konnte nur versuchen, alles wieder aus dem Kopf zu bekommen. Lambert sagte:
    Â»Ich kann mich nicht entscheiden.«
    Â»Wobei?«
    Â»Bei den Eissorten. Alles sieht gleich richtig aus. Oder gleich falsch.«
    Â»Das musst du schon selber wissen. Gib mir Bescheid, wenn du jenseits von Richtig und Falsch bist. Wir sehen uns dort.«
    Hinter der nächsten Halbinsel fiel Lambert ein, dass es nicht stimmte, was er gesagt hatte. Ihm war doch schon einmal etwas begegnet, das aussah wie ein Gott. Sein Vater, vor wenigen Tagen. Wie er auf dem Laken lag, das sich um seinen Kopf kräuselte, die weißen Haare standen zu allen Seiten ab. Wie er immer seltener Atem holte, als falle ihm von Zeit zu Zeit noch ein, dass er ja atmen müsse. Wie er am Ende einfach damit aufhörte. Als wäre es die ganze Zeit über nicht wirklich notwendig gewesen, eine Angewohnheit, die er schon früher

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