Was wir Liebe nennen
hätte beenden können.
Sein ernstes Gesicht im Tod, Lambert hätte sich ein Lächeln gewünscht, weil er immer wollte, dass es allen gut ging. Seine Mutter hatte sich hinübergebeugt und mit ihren Handflächen die Lider geschlossen. Durfte man ihm da nicht auch die Mundwinkel ein wenig in die Höhe ziehen?
Lambert fragte sich, ob er jetzt wirklich irgendwo dort oben saà und seinem Sohn zusah, wie der in einem kaum seetüchtigen Boot auf einem fremden Kontinent herumpaddelte, eine fremde Frau an seiner Seite. Was würde er von ihm halten? Würde er ihn tadeln? Womöglich saà Lambert nur in diesem Boot, weil es seinen Vater nicht mehr gab.
22
Manchmal machte Sascha ihr Angst. Ihr Blick aus den Augenwinkeln, unter den wider s p enstigen Haaren hervor, wenn sie mit irgendeiner Entscheidung ihrer Mutter nicht einverstanden war, aber kein Wort darüber verlor. Wie beharrlich sie morgens beim Frühstück mit vier glatten Schnitten die Rinde von ihrem Brot trennte und die Kanten selbst dann noch als »zu hart« neben dem Teller stapelte, als sie längst auf WeiÃbrot umgestiegen waren.
Auch heute brannte, als Viola nach Hause kam, noch Licht. Gegen die Ab s prache. Sascha hätte längst im Bett sein sollen. Viola war nach der S pätschicht noch in der Nachtapotheke gewesen, seit gestern, seit ihrer Rückkehr aus Deutschland, litt sie an einem seltsamen Schwindelgefühl, das sich einfach nicht vertreiben lieÃ, wahrscheinlich eine Erkältung. Der Apotheker hatte ihr etwas empfohlen. Leise hängte sie Jacke und Tasche über die Garderobe und schlich zu Saschas Zimmertür. Ihre Tochter saà im Schlafanzug an dem niedrigen Schreibtisch und machte das, was sie »Meine Arbeit« nannte. Vor einigen Wochen hatte sie in der Buchhaltung einer aufgelösten Sattlerwerkstatt einen riesigen, noch unbenutzten Folianten gefunden, in den sie ein geheimes Projekt zeichnete. Viola scheuchte sie ins Bett.
Das Ritual sah vor, dass sie nach dem Gutenachtkuss leise aufstand und das Zimmer verlieÃ. Heute aber blieb Viola einfach neben ihrer Tochter liegen, aus Erschöpfung und weil es der sicherste Weg war, Sascha einschlafen zu lassen. Was Mütter taten, hatte selten nur eine Absicht.
Mit einem kleinen Rucken schreckte sie hoch und stellte fest, selbst eingeschlafen zu sein. Neben ihr lag Sascha und schlief mit offenem Mund. Wahrscheinlich bekam sie auch eine Erkältung. Viola machte einen stummen Seufzer und stand auf. Beim Hinausgehen entdeckte sie, dass das Buch offen auf dem Schreibtisch lag, Sascha hatte es nicht zurück ins Versteck gelegt. Viola sah sich um, ihre Tochter atmete ruhig, mit hochgezogenen Augenbrauen. Viola setzte sich auf den viel zu kleinen Schreibtischstuhl, knipste die Lampe an und schlug den Band auf. Lachsfarbenes Papier, kleine Linien forderten die Eingabe von Aktiva und Passiva, von Soll und Haben, Zugang und Abgang, Aufwand und Ertrag. Welche menschliche Erfindung, dachte Viola, übertraf an Schönheit und klarer Eleganz die Buchführung? Höchstens die doppelte Buchführung.
Saschas Zeichnungen liefen quer über die Seiten, ohne sich von den Linien aufhalten zu lassen. Auf Violas Fragen, woran sie denn da arbeite, hatte Sascha ausweichend geantwortet. Endlich hatte sie seltsam gestelzt bekannt gegeben, sie sitze an der Neugestaltung des Nassbereichs ihrer Grundschule. Viola musste sich mehrmals vergewissern, ehe sie ihren Ohren traute. Auf weitere Nachfragen hatte Sascha ihr nur diesen langen, schweigenden Blick zugeworfen.
Viola blätterte weiter. Offenbar hatte das Projekt die selbst gesteckten Grenzen bald hinter sich gelassen, es sah aus wie der Entwurf einer Traumschule. Ausgang s punkt war tatsächlich der Waschraum, in dem es zu Violas Erstaunen sogar Halterungen für Zahnbürstenbecher gab. Aber die anderen Räume blieben nicht dahinter zurück. Fürs Lehrerzimmer hatte Sascha einen ans Balkongeländer geschraubten Aschenbecher geplant, der bei Viola die Frage aufwarf, woher ihre Tochter wusste, dass die Grundschullehrerinnen heimlich rauchten.
Die weiteren Grund- und Aufrisse füllten zwei Dutzend Seiten: Jedes Klassenzimmer war umgeben von einem Fächer aus S p iel-, Turn- und Schlafzimmern, die im Wesentlichen aus Matratzenbergen bestanden. Jedem Raum war eine eigene Matratzenfarbe zugeordnet. Alle Zimmer vollkommen rund, die Fenster reichten bis zur Decke. An der AuÃenseite des
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