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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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wird tagsüber auf dem Hof nach dem Rechten sehen, damit ihre Tochter in Berlin den Rücken frei
     hat, um einen alkoholkranken Regisseur doch noch dazu zu bringen, seinen Film mit Anstand zu Ende zu drehen. Mein Job wird
     es sein, den letzten Auftrag in der Schweiz zu Ende zu bringen: unsere gefühlten tausend Tonnen Besitz zusammenzupacken und
     den Voralpen einen Abschiedskuss zuzuwerfen.
    Und dann? Ich versuche, mir unsere Zukunft in Amerika auszumalen. Meine Phantasie liefert eine Unzahl von schrecklichen und
     wunderbaren Perspektiven, ein Durcheinander von Wenn-danns und Wenn-aber-danns. Ein wilder Strudel aus Euphorie, Angst, Hoffnung,
     Entschlossenheit und Schicksalsergebenheit.
    Ich bin allein. Seltsames Gefühl, fremd. Ich bewege mich dorthin, wo ich nicht mehr sein werde, entferne mich von dort, wohin
     ich gehen werde. Das eine ist noch nicht vorbei, das andere hat noch nicht begonnen. Und ich? In Zeit und Raum dazwischen.
    Natürlich kann ich in diesem Zeit-Raum-Kontinuum, im Sommer vor sechs Jahren, in meinem Jeep, diesem winzigen weißen Pünktchen
     auf der Landkarte, nicht ahnen, wie unglaublich reich uns Amerika mit Erlebnissen beschenken würde. Wie offen und klar uns
     die Menschen dieses Ortes aufnehmen, welch schöne |98| Freundschaften sich entwickeln, welche Fülle an Geschichten, erlebten und erzählten, wir kennenlernen würden. Wie sehr die
     fast verzweifelte Prophezeiung «Wir werden diesen Ort lieben, weil er uns formen und verändern wird» in Erfüllung gehen, wie
     schön der Hof tatsächlich wachsen und gedeihen würde. Dass wir natürlich Land pachten und kaufen konnten, dass der Flugbetrieb
     nebenan nur aus einigen wenigen ab und zu fliegenden Ultralights besteht, dass unser Dorf weiterhin von Blechlawinen verschont
     blieb und dass die Techno-Partys sich als eine vorübergehende Erscheinung herausstellen würden   … nein, all das ahne ich jetzt noch nicht, eingepfercht, allein in meinem mobilen Blech, das mich in die verkehrte Richtung
     bewegt. Zurück ins Alte statt vorwärts ins Neue.

|99| Schlangenhaut
    Nach der langen Fahrt zurück von Amerika auf den Hof in der Schweiz hat mich kein freudiges Hundegebell begrüßt, keine Katze
     sonnte sich auf dem Mäuerchen neben der Scheune. Der Eselstall leer, wie ein hölzernes Ei, aus dem das Küken längst geschlüpft
     ist. Der Teich ein totes Auge in der Wiese, kein Entengepaddel kräuselte seine Oberfläche. Keine Sonja öffnete die Tür und
     rief: «Da bist du ja, mein lieber Maaaaan!»
    Stille. Unbeweglichkeit. Eine Filmkulisse ohne Darsteller.
    Erschöpft, ausgebrannt, setzte ich mich auf die verwitterte Bank neben dem Teich. Langsam begann in meinem inneren Ohr das
     ewige Motorengebrumm der langen Fahrt abzuklingen. Die Sonne war bereits hinter dem westlichen Hügel abgetaucht. Ich dachte
     an den großen Himmel Brandenburgs, da würde sie jetzt noch drei weitere Stunden scheinen   … Heimweh nach Amerika, jetzt schon? «Kann nicht sein», dachte ich. «Es ist einfach nur zu still hier, mit mir allein.»
    Ich unterdrückte den Impuls zu schreien, um zu hören, ob jemand antwortet. Saß auf der Bank und sah zu, wie sich nichts |100| bewegte. Nur das Licht glitt hinüber vom Abend zur Nacht, die Farben verblassten, es wurde kühl. Ich ging ins Haus. Die Kaffeetasse,
     die ich vor meiner Abfahrt benutzt hatte, stand unverändert auf dem Küchentisch. Eine Fliege war im kleinen Kaffeerest ersoffen,
     die Flüssigkeit war inzwischen eingetrocknet. Ein im Krater eines fremden Planeten gestrandetes Mini-UFO. Machte zusammen
     mit mir zwei gestrandete UFOs.
    Ein bosnischer Schriftsteller, der in die USA ausgewandert war, hat Heimat einmal so definiert: «Heimat ist dort, wo man es
     bemerkt, wenn du nicht da bist.» Hier hat nichts und niemand mein Wegsein bemerkt.
    Ohne die gewohnten Gute-Nacht-Rituale – der letzte Gang mit den Hunden um den Hof, das letzte Schauen nach Eseln und Pferd,
     Katzenfutter kontrollieren, nachsehen, ob die Entenstalltür verriegelt ist   –, ohne all diese Pflichten, die mir oft genug lästig gewesen waren und die ich jetzt so seltsam vermisste, stapfte ich die
     Treppe hinauf ins Schlafzimmer und fiel zerschlagen in das leere Bett.
    Die folgende Zeit war, neben den letzten Arbeiten für das Schweizer Fernsehen, gefüllt mit Packen und Wegschmeißen. Letzteres
     war wie eine Befreiung. Jeden Gegenstand, jedes Gerät nahm ich in die Hand und fragte mich, wann hast du dieses Ding zuletzt
    

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