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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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holperige Sträßchen rumpelnden Ambulanz wieder. Spital,
     Untersuchung, Diagnose: Achillessehnenabriss, Operation, Punkt, Ende.
    Fakt.
    In alten Texten kann man öfter die Wendung lesen: «Da rief er die Götter an.» Nach diesem Telefonat wusste ich, wie das ist
     mit dem Götteranrufen. «Warum, warum, warum», rief ich, «warum jetzt, warum ausgerechnet dann, wenn es überhaupt ganz und
     gar nicht geht, dass einer von uns beiden ausfällt?» Ich rief den Göttern auch Schimpfnamen zu. Ich fragte sie, wie sie sich
     das vorstellten, verflucht nochmal, wie Sonja ihren Film machen solle mit einem kaputten Fuß, wie sie die Tiere versorgen
     solle, wenn ich nicht am Hof bin, weil ich doch, verflucht, auch meinen Job |106| machen müsse, hätten sie das vergessen da oben? Ich würde vier Tage die Woche in Wien sein, Talkshow machen, wie solle das
     alles gehen, und überhaupt, «was ist denn das für ein beschissener Start in ein neues Leben, soll das etwa ’ne Prüfung sein,
     oder was?», rief ich. Sie an. «Oder ein Zeichen, soll das ein göttliches Zeichen sein, eine Botschaft?» So eine bescheuerte
     Botschaft könnten sie sich sonst wohin schmieren, die bräuchte ich nicht, diese Botschaft. So rief ich die Götter an, auf
     dem Heuboden in der Schweiz, inmitten eines Haufens nutzlos gewordenen Papiers. Womöglich habe ich sie eher angebrüllt als
     angerufen.
    Und jetzt ist er da, der letzte Tag auf dem Hof in den Schweizer Voralpen. Soeben ist der riesenhafte Umzugstransportwagen
     samt ebenso riesenhaftem Umzugstransportanhänger den schmalen Feldweg talwärts gerumpelt. Ich stehe auf dem Kopfsteinpflaster
     vor dem Haus. So leer wie der Stall ist jetzt auch die Scheune, die kleine Einliegerwohnung, das alte Haus. Nichts mehr legt
     da drinnen Zeugnis davon ab, dass wir hier gelebt, geatmet, gelacht und geweint haben. Alles nur noch Erinnerung, die langsam
     verblassen wird, zusammenschrumpfen zu wenigen markanten Weißt-du-noch-Ereignissen:
    Sonjas Freudentanz im Tiefschnee des ersten Winters hier oben. Der erste Sommer mit dem ersten selbstgemachten Heu. Die Geburt
     der Eselfohlen. Das Alphorn, das tatsächlich von der Käserei im Tal heraufscholl wie im Heidifilm. Die Freunde, die uns hier
     besucht haben, und die Freunde, die wir hier oben fanden. Der verlorene Kampf um den Erhalt des kleinen Bergschulhauses, der
     die Nachbarhöfe zu einer echten Gemeinschaft zusammengeschweißt hat. Das November-Nebelmeer, das nur wenige Meter unterhalb
     des Stalls waberte und das Tiefland mit deprimierendem Grau zudeckte, während wir uns hier oben unter blauem Himmel die Sonne
     auf die Bäuche scheinen lassen konnten. Die Weihnachtsfeier |107| im verschneiten Wald, nur Sonja, die Hunde und ich, neben einer kleinen Tanne, auf die wir ein paar Kerzen gesteckt hatten.
     Der mächtige Sturm, der Tausende von Bäumen fällte, unserem Hof aber nichts antun konnte, weil der so geschützt in den Hang
     gekuschelt lag. Der Brand im Dach und die verzweifelten Versuche zu löschen, bis die Feuerwehr da war und alles, wenn auch
     knapp, nochmal gut ausging.
    Danke, Hof, es war schön, mit dir leben zu dürfen. Und auf dir. Du hast uns viel gelehrt über die Macht der Natur, über Disziplin,
     über die Zufriedenheit des Tuns. Tschau und mach’s gut. Tschau, Sonjas Garten. Viel Spaß noch, Salatköpfe, beim Ausschießen,
     tschau, ungepflückte Beeren. Tschau, Rosen, Sonja war so stolz auf euch. Vermehrt euch brav, grabt eure Wurzeln noch tiefer
     in den Berg, ihr seid die Erinnerung des Hofes an uns.
    Ratlosigkeit macht sich in mir breit. Wie verabschiedet man sich von einem Lebensort? Man streift ihn ab wie die Schlange
     ihre zu klein gewordene Haut. Ich werfe einen letzten Blick zu den Bergen hinüber, winke zum Haus, als ob es jemand sehen
     könnte, und steige in den Jeep.

|108| Gelandet
    «Wo sind meine Sachen!», schreit Sonja. Sie liegt auf einem Feldbett, Rückenlehne hochgeklappt, Kissen im Kreuz, zweites Kissen
     unter ihrem Unterschenkel, der fest umhüllt wird von einer bis unter den Rist reichenden supermodernen Polyesterkonstruktion
     mit stufenlos justierbarem Fußgelenks-Bewegungsbegrenzer.
    «Wo sind meine Sachen?», ruft sie mit wachsendem Entsetzen. «Das kann doch nicht alles sein!» Sie versucht, sich an der Krücke
     aus der liegenden in eine stehende Position hochzustemmen. Verzieht das Gesicht vor Schmerz, gibt auf, lässt sich zurücksacken
     – «aua, so eine Gemeinheit.» Sie fuchtelt mit dem

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