Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
Genauso, wie Hühner viel lieber in einem Käfig mit einer Fläche von nicht mal einem A 4-Blatt hocken, ohne auch nur die Flügel ausbreiten zu können, als draußen im Gras nach Würmern zu suchen.
Weil man den Hund nicht ins Büro mitnehmen darf, ist es dem Hund total lieb, den ganzen Tag alleine in der Stadtwohnung vor |92| sich hin zu vegetieren. Praktischerweise hat er nämlich überhaupt kein Zeitgefühl.
Schweine auf der Weide zu halten ist sehr aufwändig. Darum fügt es sich prächtig, dass Schweine Schweine sind und sich gerne
in engen Koben in den eigenen Fäkalien suhlen und dass sie es auch lieben, gefesselt in der Sauenbox auf einem Stahlrohrrost
zu liegen.
Ein Pferd vor dem Ausritt auf der offenen Koppel einzufangen funktioniert nur, wenn das Pferd dem Reiter vertraut. Vertrauen
aufzubauen kostet leider eine Menge Zeit, und wer hat die schon? Da ist es doch nett von den Pferden, dass sie sich in der
engen Box, in Einzelhaft, viel kuscheliger fühlen und sich immer so toll freuen, wenn der Reiterherr oder die Reiterdame sich
alle paar Wochenenden die Ehre gibt, aufsitzen zu wollen.
Kaninchen haben die blöde Angewohnheit, sich unter jeder Umzäunung durchzugraben. Wie gut, dass sie solche Angsthasen sind,
dass sie sich erst in der Enge des Karnickelstalls so richtig sicher fühlen.
Man kann spielend dickere Bücher als das, was Sie gerade in der Hand halten, mit ähnlichen Beispielen füllen. Ich kenne Einzelhundbesitzer,
die allen Ernstes überzeugt sind, ihr Fido würde sich vor einem Gefährten nur fürchten oder ihr Hasso würde einen zweiten
Hund sofort totbeißen. Ich kenne eine Stadtkatzenbesitzerin, die schwört, ihre Mieze würde nur auf Auslegeware gehen können,
sich vor Gras fürchten und nach einer Konfrontation mit einer Maus sofort reif sein für den Tierpsychologen. Selbst meine
Eltern versicherten mir, Zirkustiere hätten großen Spaß an den Dressurakten und würden ganz stolz sein, wenn das Publikum
applaudiert. Und jeder Zoobesucher redet sich ein, dass die eingesperrten Tiere ein viel schöneres, weil sichereres Dasein
fristen als ihre Artgenossen in der Wildnis.
|93| Auch ich selbst musste mich kräftig an meine Tierfreundenase fassen. Die Enten hatte ich mir blöd geredet, ohne mich je mit
ihnen befasst zu haben. Ich kannte sie ja nur im Vorübergehen, als Verzierung auf den Stadtparkweihern, als schwimmende Sozialpartner
Altbrot werfender Rentner. Doch die Laufenten lehrten mich Respekt. Ich beobachtete, dass sie ein ausgeprägtes Sozialverhalten
haben. Ihr Orientierungsvermögen ist beachtlich, sie merken sich im Umkreis von mehreren hundert Metern jede Stelle, an der
sie jemals gutes Futter gefunden haben. Und sie verfügen über eine sehr differenzierte Sprache. Warnen, Flirten, Angst, Freude,
Drohung, Orientierung, «Wo bist du», «Ich bin hier», «Komm schnell», «Geh weg»– all das können sie ausdrücken. Und sie können
ihre Stimmen voneinander unterscheiden, wissen, welche Ente was sagt. Das ist keineswegs nur Gequake, das ist Kommunikation!
Ich war fasziniert. Das überstieg alles, was ich diesen Vögeln mit ihren erbsengroßen Hirnen zugetraut hätte. In der Rekordzeit
von nicht mehr als 48 Stunden hatten sie gelernt, dass die Sennenhündinnen nicht gefährlich sind, Eselhufe aber schon, dass der Stall sicher ist
und dass in den Salatbeeten die fettesten Schnecken hocken, und zwar besonders dann, wenn die Sonnenstrahlen im Winkel von
30 bis 60 Grad auf den Boden treffen.
Indem ich sie beobachtete, lernte ich, ihre Sprache zu verstehen, und versuchte, sie nachzuquaken. Es gelang mir sogar teilweise.
So konnte ich sie zum Beispiel über weite Strecken zu mir rufen. «Zeit, nach Hause zu kommen, es wird dunkel», konnte ich
akzentfrei auf Entisch. Ich habe jedoch nie herausgefunden, was «geht jetzt in den Stall, bitte» auf Entisch heißt. Und so
taten sie mir den Gefallen und lernten ihrerseits Menschisch: den Satz «Gang äntli hei, Äntli».
Sie wuchsen mir unversehens ans Herz. Ans Herz … Vögel … mir, dem alten Vogel-Ignoranten, wer hätte das gedacht? Vor diesem Hintergrund überrascht es Sie wohl kaum, dass mein Herzschlag |94| kurz aussetzt, als ich den leeren Entenbehelfsstall abtaste und feststelle: Sie sind weg.
WEG!
Ich rufe sie, natürlich auf Entisch. Keine Antwort. Ich rufe sie hinter dem Stall, rufe sie hinter der Scheune, rufe zu den
Nachbargärten. Keine Antwort.
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