Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
Krückstock in Richtung des riesenhaften Umzugstransportanhängers, der zirkelnd
auf den Hof rangiert worden ist und der jetzt, wie ein Monster übermächtig Platz verdrängend, den Stall, das Haus, selbst
die Scheune zu Niedlichkeiten schrumpfen lässt. Die Umzugsleute haben soeben die zweiflügelige Ladetür aufgeklappt.
«Der ist ja gar nicht voll, sieh doch, Ditaaaaa, warum ist der halb leer?» In der Tat sind nur 13 Meter des insgesamt 15 Meter langen Ungetüms bis unter das Dach mit unserem Hab und Gut vollgerammelt. |109| Mir ist schon die ganze Herfahrt schlecht geworden, wenn ich nur daran dachte, wie viel Zeug wir mit nach Amerika schleppten.
Sehnsuchtsvoll trauerte ich den Zeiten nach, wo ich das Prinzip «wer mehr besitzt, als in einen Ford Transit passt, hat zu
viel» aktiv lebte.
Ich habe zwar großzügig ausgemistet, verschenkt, verklopft und auch tief befriedigt zugesehen, wie etliche Jeepladungen voll
Altlast in dem riesigen Betontrichter der zentralen Groß-Abfallsammelstelle ins Nichts verschwanden, ich war auch durchaus
dankbar, dass Sonja im fernen Amerika weilte und ich entsorgen konnte, was zu entsorgen war, ohne mit ihr um jedes Ding feilschen
zu müssen – aber dennoch sind Tonnen über Tonnen verblieben, welche, dank professioneller Ladetechnik, die Reise nach Amerika
geschafft haben und nun aufs Ausladen warten.
«Sonja, das ist erst der Anhänger, da steht doch noch der Lastwagen vor dem Haus, der ist genauso riesig und voll bis zum
letzten Kubikzentimeter», beruhige ich meine leidende Frau. «Du wirst sehen, es ist alles da, glaub mir.»
Fehler. Ich kenne Sonja. Wenn sie «glaub mir» hört, schnellt ihr Unglaubepegel reflexartig von null auf einhundert von einhundert
möglichen Punkten. Sie plustert sich auf ihrer Liege zu maximaler Größe auf, nagelt mich mit ihrem Blick von unten herauf
an den blauen Himmel und fragt: «Was hast du alles weggeworfen?»
Auweia. Jetzt heißt es Vorsicht, was du sagst. «Sonja, ich hab nur weggegeben, was wir ganz bestimmt nie mehr brauchen werden.
Nur Zeug, bei dem du dich gar nicht mehr daran erinnerst, dass wir es überhaupt mal hatten. Du wirst nichts vermissen …»
«Ich erinnere mich an alles, was wir jemals hatten.»
Diese Behauptung klingt zwar angesichts der Masse von Dingen, die wir jemals hatten, unglaubwürdig, ich weiß. Aber unterschätzen
Sie Sonjas diesbezügliche Gedächtnisleistung nicht …
|110| «Vorschlag, Sonja: Wir laden jetzt erst mal ab, und wenn du etwas bemerkst, das nicht da ist, dann sagst du’s, und dann … dann reden wir drüber, okay?»
Sie würdigt dieses unsinnige Angebot keinerlei Antwort.
«Männer, abladen», rufe ich und bin froh, vom
Ve
rhandeln nunmehr zum Handeln überzugehen.
Stundenlang schleppen wir ein Ding nach dem anderen, unsere gesamte irdische Habe, zuerst die aus dem Anhänger, dann die aus
dem Lastwagen, an Sonjas Liegestatt vorbei. Und wie das bei Hausherrinnen so üblich ist, dirigiert sie zielsicher alles an
seinen Platz. «Ins Wohnzimmer, rechte vordere Ecke.» – «Küche, zum Herd.» – «Keller.» – «In die Scheune, ganz nach hinten.»
– «Ins Gerätehaus neben dem Stall.» – «Schlafzimmer, wenn Sie reinkommen, hintere linke Ecke.» Sie deutet jeweils mit dem
Krückstock die grobe Richtung an. Davon könnten sich die Milhoffs ein Stück abschneiden, schade, dass sie jetzt nicht hier
sind, denke ich.
Mit jedem Stück Besitztum, das an Sonja vorbeizieht, heitert sich ihre Laune auf. Und am Abend ist alles geschafft, der Lastwagen
samt Hänger leer und weg, unsere Sachen da. Und ich auch. Zwar noch nicht so richtig angekommen in Amerika, aber da. Und ich
schwöre mir: für immer. Schon wegen der Umzieherei. Das brauch ich ganz sicher nicht noch einmal.
|111| Schlaflos in Amerika
In der Schweiz nennt man sie Schlafdörfer. Jene vergessenen Orte, in denen der Dorfladen pleitegegangen ist, die Bauern ihre
Höfe aufgegeben haben, der Schreiner seinen Hobel in die Ecke geschmissen und der Wirt aus Verzweiflung über seine Zukunft
als Autobahnraststätten-Kellner den letzten Schnapsvorrat selbst versoffen hat.
Diese Dörfer wurden erobert von smarten Anwälten, hippen Graphikern und politisch korrekten Medienleuten. Den Dorfladen haben
sie zum Loft umgebaut, die Bauernhöfe zu «Schöner Wohnen»-Schaufenstern verarchitektet, die Schreinerei zum Atelier geadelt.
Vor den Fenstern der alten Häuser hängen Geranien
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