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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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entkernt und schöne Gipswand-Appartements hineingeschachtelt,
     die tatsächlich in der Schweiz genauso zu Millionen existieren. Die ästhetische Globalisierung hat die Architektur fest im
     Griff. Eine andere Scheune hat er in noch kleinere Mini-Appartements parzelliert. Aber niemand will in diesen Touristenzellen
     «Ferien auf dem Land» machen. Seine Spekulation hat nicht funktioniert. Ist es nicht faszinierend, wie Architekten sich immer
     wieder aufs Neue wundern, warum die Menschen nicht freudig Geld ausgeben für ihre Kreativergüsse, die doch auf dem Millimeterpapier
     so vielversprechend ausgesehen haben?
    Es gibt sie also, man kann es nicht leugnen, die ersten leisen Vorboten einer möglichen Verschlafdorfung. Aber dass Amerika
     in absehbarer Zeit verschweizert, ist dennoch unwahrscheinlich. Zum einen verhindert das die nicht totzukriegende Lebendigkeit
     der Amerikaner, zum anderen kostet es ziemlich viel Geld, eine Schlafdorf-Idylle zu kreieren. Und das hat hier niemand.
    Der augenfälligste und schlagendste Beweis dafür, dass Amerika lebt, ist jedoch die Tatsache, der unumstößliche Fakt, dass
     es   … einen Dorfladen gibt! Ja, genau so einen, wie man ihn früher im Westen als Tante-Emma-Laden bezeichnet hat. Im Osten hieß
     das Konsum. Betonung auf dem «o», Sie erinnern sich, wie Müsebeck das ausgesprochen hat. Geführt, genauer gesagt: besetzt
     gehalten, wird der Laden von Frau Widdel, Vorname Waltraut, mit scharfen t, geborene Tessmann, ebenfalls mit scharfem T.
    |115| Wer den Laden betritt, der merkt sofort, das ist kein Geschäft, das man einfach so betritt. Man taucht ein. In eine andere
     Welt, in ein Universum, das sich über Jahrzehnte aus der Ursuppe von Angebot und Nachfrage herauskristallisiert hat. Und es
     gibt eine nach ihrem eigenen Ratschluss alles bestimmende Göttin in diesem Universum: Frau Widdel. Doch das ahne ich an meinem
     allerersten Montagmorgen in Amerika natürlich noch nicht   …

|116| Hell, blond, dunkel
    Ich bin unterwegs, «Beute zu machen», wie Sonja gerne sagt, wenn eingekauft wird. Meine Beute wird aus einem schönen, prächtigen,
     vielseitigen Frühstück bestehen. Ich werde sie nach Walhall tragen und meiner verletzt daniederliegenden Königin hinreichen.
     An der Pfuhle vorbei strebe ich über die Dorfwiese Richtung Dorfladen. Der bronzene Hengst glänzt in der Morgensonne. Sein
     kraftvolles Aufbäumen, die wehende Mähne, der zur Seite fliegende Schweif – es scheint wahrhaftig, als ob er voller Begeisterung
     den Tag begrüßte. Ich zolle ihm Tribut, indem ich stehen bleibe und ihn bewundernd betrachte.
    «Dich werde ich ab nun jeden Morgen begrüßen, edler Hengst, durch das Küchenfenster. Ich wohne nämlich gleich gegenüber, in
     dem krankehundekackfarbenen Haus da.»
    «Redest du neuerdings mit Bronzepferden? Peinlich, wenn dich einer sieht», sagt der kleine Schweizer in mir. Ich blicke mich
     um, keiner hat’s gesehen. «Gott sei Dank», seufzt der kleine Schweizer.
    Voll freudiger Erwartungen nähere ich mich dem Laden. Ich bin neugierig auf die Besitzerin. Sonja kennt sie natürlich längst. |117| Diese Frau Widdel sei «schon in Ordnung», meinte sie und fügte mit Geheimniskrämermiene hinzu: «Du wirst ja selber sehen.»
     Na, dann werde ich eben selber sehen   …
    Bevor ich Frau Widdels ansichtig werden kann, habe ich jedoch erst mal die Stufen zur Terrasse zu überwinden. Sie kennen doch
     die Veranden vor den Saloons in den alten Schwarzweiß-Western – so eine Terrasse ist das. Etwa bauchnabelhoch, umrüstet mit
     einem einfach gezimmerten Holzgeländer. Selbst die alten Männer in den Schaukelstühlen, die jeden Fremdling mit diesem typischen
     Blick aus Neugierde, Verachtung und Misstrauen aus ihren leicht zusammengekniffenen Augen heraus mustern, fehlen nicht. Nur
     dass diese hier nicht wirklich alt sind und dass sie keine Schaukelstühle haben. Sie lehnen teils cool an der Mauer, teils
     stehen sie breitbeinig an der Brüstung, die Ellbogen schwer auf das Geländer gestützt. Und statt Whiskey aus blechernen Flachmännern
     trinken sie Bier aus der Flasche.
    Es kostet mich als Fremdling eine gewisse Überwindung, diese Terrasse zu entern und unter den Blicken der Tempelwächter da
     oben («aha, det is wohl der Neue») locker, aber nicht zu forsch die fünf Stufen hinauf zu nehmen. Das «Guten Tag» nehme ich
     mir vor, respektvoll, aber nicht devot, selbstsicher, aber nicht arrogant, höflich, aber nicht anbiedernd

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