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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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einträchtig neben Kitty’s Kinder-Freund mit Bastelbogen und den Pferdehof-Fortsetzungs-Fotoromanen.
    «Na, na, na, junger Mann, lassen Se mal mein Laden heile!», tönt eine Frauenstimme hinter mir. Ich wirbele herum und sehe   … Blümchenglas, direkt vor meiner Nase. Ich schiebe die Tür vorsichtig in Position «geschlossen», und wie bei einer Wischblende
     im Film gibt das Blümchenglas den Blick frei auf die Szene dahinter.
    Frau Widdel sitzt links neben dem Eingang hinter einem hüfthohen Resopalwändchen. Eine ökologisch korrekte Registrierkasse,
     sie funktioniert noch ohne Strom, hockt breit und fett in ihrem schmutzig grünen Bakelitpanzer vor Frau Widdel wie eine monströse
     Kröte und funkelt mit ihren aufgereihten Tastenaugen böse in die Welt.
    Frau Widdel trägt eine dieser Kleiderschürzen, die in den Sechzigern wohl von irgendeinem Frauenhasser erfunden worden sind
     und die seither Myriaden von Frauen zu Putz-, Haus-, Aufräum-, Zugeh-, Küchenhilfs-, Kantinenessensausgabe-, kurz: zu Dienstfrauen
     verunstaltet haben. Sie wissen schon: 100   Prozent fleckneutralisierendes Polyester, winziges Deppenblümchenmuster in fleckneutralen Farben, der Rundhalsausschnitt und
     die ärmellosen Armlöcher, gerne in Rosa gesäumt, Knopfleiste vorn, kniescheibenlang, Sackschnitt. Der gleiche Verbrecher,
     der das erfand, hat übrigens auch beschlossen, dass Gesundheitsschuhe nur in der Farbe «Hornhaut» hergestellt werden. Er ist
     der Kerl, der es geschafft hat, Stützstrümpfe so zu designen, dass jedes Auge, das sie wahrnimmt, unweigerlich ans Hirn meldet:
     «Vorsicht, Körpergeruch!» Wenn ich mich nicht sehr täusche, nahm es ein gerechtes Ende mit ihm: Er |121| ist als Chefdesigner einer Schnabeltassen-Fabrik beim Selbsttest erstickt.
    Frau Widdels Gesicht ist das einer Frau, die schon lange nicht mehr träumt. Unter den Augen bläulich umrandete Tränensäckchen,
     längst geleert, die leicht hängenden Wangen mit roten Äderchen durchzogen. Ihre Mundwinkel sind ein wenig zusammengekniffen,
     als hätte ihr das Leben zu viele saure Drops verabreicht. Ihr Blick ruht auf mir. Sie lächelt nicht, sie zürnt nicht, sie
     guckt einfach. Guckt und wartet, was als Nächstes passiert. Sie würde nicht anders gucken, wenn jetzt ein nackter Weihnachtsmann
     hereingestürmt käme und «frohe Ostern» brüllte oder Brad Pitt im Smoking auf Knien vor sie rutschte und mit tausend roten
     Rosen im Arm Liebesschwüre stammelte. Wer guckt wie Frau Widdel, der kann in einen Atomblitz sehen, ohne Schaden zu nehmen.
    «’tschuldigung», mache ich, «guten Tag.»
    «Guten Tag», macht Frau Widdel. Singt ihn fast, diesen eingelernten Gruß, millionenfach wiederholt, Heerscharen von Kunden
     durch Jahrzehnte entgegengetönt. Das «Gu» mit hoher Stimme, gefolgt von einem etwas tieferen «ten», ausklingend mit einem
     noch tieferen, langgezogenen «Taaaaaaaaag». Wer das hört, weiß: Dieser Taaag wird alles, aber nicht gut. Dieser Taaag ist
     wie alle anderen davor und alle, die noch kommen werden – ein Hohn, ein Krüppelkind ablaufender Lebenszeit.
    Frau Widdel ist in ihr bewegungsloses Gucken zurückgesunken. Unglaublich, dass diesem entschlossen geschlossenen Mund soeben
     ein Gruß entströmt sein soll.
    «Ich wollte   … Ich bin der   … Wir sind neu in Amerika, und ich wollte   …» Also, mit den Jungs war’s leichter. Frau Widdel erlöst mich nicht mit einem «Weiß ich schon». Sie guckt einfach weiter.
     Eigentlich müsste sie doch jetzt fragen, was mein Begehr sei, was sie für mich tun könne, was es denn sein dürfe, sie müsste
     sagen, |122| dass sie ganz wunderbare Tomaten reinbekommen hat und dass die Eier frisch sind vom Hof nebenan. Sie müsste das Himalaja-Salz
     empfehlen und den alten Balsamico   …
    Ich werde immer nervös, wenn Menschen die ihnen zugeteilte Rolle einfach verweigern, einfach nicht mitspielen. Die Regeln
     außer Kraft setzen. Taxifahrer, die
mich
nach dem Weg fragen, zum Beispiel, oder Schaffner, die mein Ticket
nicht
sehen wollen, oder Kellner, die sagen: «Das würde ich an Ihrer Stelle nicht essen.» Und wie alles, was mich nervös macht,
     fasziniert es mich gleichzeitig. Ich werde neugierig, will das Rätsel knacken. Auf welchem Planeten bin ich gelandet, welches
     Koordinatensystem hat hier Gültigkeit?
    Ich begreife: Auf dem «Planet Widdel» bietet nicht der Dienstleister (sie) einen Dienst an, sondern der Dienstleistungs-Nehmer
     (ich) hat um den Dienst zu

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