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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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ein labbriger Karton mit Haltbarmilch-Tetrapacks. Oder Packen. Oder Päckitsches.
    |125| «Frische haben Sie nicht?»
    «Das wird hier nicht verlangt.»
    «Aha.»
    «Das ist Haltbarmilch.»
    «Frische schmeckt doch aber besser.»
    «Haltbarmilch ist praktisch. Die ist haltbar.»
    «Schon, aber schmeckt nicht so gut wie Frischmilch.»
    «Wie gesagt, die Leute kaufen hier nur H-Milch .»
    «
Ich
aber würde Frischmilch kaufen.»
    «Nee! Hier nehmen
alle
H-Milch .»
    «Aber Frischmilch   …»
    «Haben wir nicht», sagt das Hammwanich-Gesicht. Was soll man darauf antworten? Ich antworte abermals nicht und nehme eben
     die Drecks- H-Milch aus dem Karton. Besser als keine, ich hasse Kaffee ohne Milch zum Frühstück.
    «Sehen Sie», sagt Frau Widdel, weil ich jetzt auch dazugehöre, zu allen, die nur H-Milch kaufen.
    «Dann nehme ich noch den Schinken mit», kaschiere ich meine Niederlage.
    «Welchen?»
    «Beide.»
    Sie erhebt sich mit leisem Stöhnen von der Kasse, zwängt sich hinter die Vitrine und greift nach den je fünf Blatt Westfäler
     und Schwarzwälder in Plaste. «Nu ist der auch aus», murmelt sie. Ich kann nicht entscheiden, ob sie das vorwurfsvoll sagt,
     weil ich den andern Kunden den schönen Schinken wegkaufe, oder ob sie froh ist, dass die Ladenhüter endlich doch einen Trottel
     von Käufer gefunden haben. Beides wäre Grund genug, auf den Schinken zu verzichten, aber ich will Frühstück, verdammt.
    «Haben Sie Brot?», frage ich gespannt.
    «Weiß oder dunkel?», fragt Frau Widdel. Ein neuartiges, fremdes |126| Gefühl steigt in mir auf, ein Gefühl, das meine Großeltern vielleicht noch gekannt haben: Dankbarkeit, dass es Brot gibt.
     Brot! Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal bei einem Einkauf solche Freude empfunden habe. Danke, Frau Widdel!
    Sie hält in jeder Hand einen Brotlaib über ihre Schulter gestemmt. Von links nach rechts: Weißbrot, Widdel-Kopf, Dunkelbrot.
     Und nun sehe ich es, jetzt erst wird es mir bewusst, es knallt förmlich in meine Augen: hellbraun – knallblond – dunkelbraun.
     Frau Widdels Frisur steht im absolut ultimativen Megakontrast zur Kleiderschürze und ihrer Miene. Eine luftig geföhnte, sich
     wild türmende Haarpracht in intensiv leuchtendem Blond. Blondblond.
    Und ihre Hände! Die Finger heben sich scharf von der Brotkruste ab, es sind schöne Finger, schlanke Finger, mit grellrot,
     beinahe orange lackierten Nägeln. Das haut mich um. Vielleicht hat diese Frau doch noch Träume! Zwanghaft wandert mein Blick
     nach unten, ich muss wissen, was da unterhalb der Blümchenschürze zum Vorschein kommt. Tigerleggings vielleicht oder sonnenstudiogebräunte
     Claudia-Schiffer-Unterschenkel oder genietete Rockerbraut-Fransenhosen? Durch das Glas der Kühlvitrine visiere ich, über die
     Liebesknochen hinweg, Frau Widdels Beine an. Sie trägt Jeans.
    «Na?», fragt Frau Widdel. Ertappt.
    «Äh, das Blonde bitte, ich meine das Hellere, also das Weißbrot bitte.»
    Frau Widdel legt das dunkle Brot zurück in die Backwaren-Plastekiste, die hinter der Vitrine verborgen auf einem kleinen Tischchen
     steht.
    «Schrippen dazu?», fragt sie gleichgültig.
    «Bitte was?»
    «Ob Sie auch Schrippen wollen zu Ihrem Frühstück.» Mit drei lackierten Fingern der jetzt freien Hand greift sie ein Brötchen
     und |127| streckt es mir entgegen. Es verdeckt exakt ihr Gesicht. Ich sehe: ein knuspriges Brötchen mit einem wild-grellblonden Haarkranz.
    «Ach, Schrippen heißen die, nicht Strippen, jetzt ist mir alles klar, haha.» Ich lache wie ein debiler Schuljunge.
    Frau Widdel lacht nicht. Sie setzt sich ungerührt hinter ihre Kasse. «Sag ich doch, dass man Strippen nicht essen kann. Außerdem?»
    «Danke, das reicht.»
    Als ich wieder auf der Terrasse stehe, sind die Männer weg. Auf dem Gesims des Ladenfensters stehen, ordentlich aufgereiht,
     die leeren Bierflaschen. Es ist irgendwie gut, auf dieser Terrasse zu stehen. Man sieht leicht von oben herab in das Dorf
     hinein. Man sieht, wer kommt, wer geht und wer mit wem. Und wer gegen wen. Und wer was. Man ist dabei, hier oben. Und gleichzeitig
     schafft das Geländer angenehme Distanz. Die Terrasse ist Frau Widdels Bühne und gleichzeitig ihre Hafenmauer, das Bollwerk
     gegen die tagtäglich anbrandenden Wünsche ihrer Konsumenten. Könnte es sein, dass auch ich einmal lustvoll hier oben stehen
     werde, in Ruhe ein Morgenbierchen aus der Flasche zischend und einfach nur hineinguckend in dieses Amerika? «Nein, das

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