Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
kennengelernt? Man hört dann etwas über den Beginn einer Liebe oder den Beginn einer tiefen Freundschaft. Hört man gut zu, fragt man interessiert, aber nicht zu insistierend nach, wird durch das Gespräch eine wichtige Erinnerung geweckt, die natürlich schmerzhaft gegen den erlittenen Verlust steht, aber als emotional erfahrbare Erinnerung auch wieder die Lebensgeister anregen kann: Freude, Begeisterung, Gefühle der Liebe werden auf diese Weise noch einmal erinnert. Diese gute Erfahrung am Beginn einer Beziehung ist ein wichtiger Aspekt des gelebten Lebens. Vielleicht ist es sogar möglich, herauszufinden, was sich denn durch diese Begegnung im eigenen Leben verändert hat, was der andere Mensch in uns belebt, aus uns herausgeliebt hat. 36 Gelingt das, erfüllt uns das meistens – trotz der Trauer – mit einer gewissen Dankbarkeit.
Der Erinnerungsprozess beim Trauern nimmt viel Zeit in Anspruch. Es ist nicht so, dass Trauernde eine Beziehung chronologisch aufarbeiten: Immer wieder fällt etwas aus der gemeinsamen Geschichte ein und wird dann in der Erinnerung ausgearbeitet. Auslöser für neue Erinnerungsnester ist nicht selten die Erfahrung, dass etwas schmerzlich fehlt.
So fehlen einer Trauernden die »harten Diskussionen« mit ihrem verstorbenen Mann. Die haben ihnen beiden Freude bereitet. Mit anderen Menschen kann sie diese Diskussionen nicht führen, die sagen schnell, sie sei so aggressiv. Und sie erinnert sich an bestimmte Diskussionen, merkt, dass es durchaus auch darum gegangen ist, wer gewinnt, wer die besseren Argumente hat, aber auch darum, dass sie sich voneinander abgrenzten – sie selber hatte die Tendenz, sich zu sehr anzupassen und sich dabei zu verlieren – und es war halt einfach unterhaltsam gewesen. Beim Erinnern beginnt sie zu schmunzeln. Und immer mehr fällt ihr zu dieser Auseinandersetzung ein, auch die Themen, die nicht verhandelbar waren. Nicht nur eine Erinnerung, sondern ganze Nester von Erinnerungen tauchten auf. Natürlich fragt sich die Trauernde, ob unter ihren Bekannten, Freunden und Freundinnen noch ein Mensch sein könnte, mit dem oder der sie annäherungsweise solche Gespräche führen könnte. Das wäre ihr wichtig für die Zukunft. Sie sieht aber auch ein, dass sie so eine Beziehung langsam aufbauen müsste.
Die Erinnerung an die Vergangenheit, die hier mit Freude verbunden war, belebt auch Pläne für die Zukunft. Das ist ihr wichtig.
Man hat die Wahl zwischen der Härte des Verlusts gemildert durch die Erinnerungen, oder der Härte des Verlusts ohne Erinnerungen, weil man sie nicht zulassen kann oder sie gering schätzt. Die Härte des Verlusts bleibt. Und natürlich werden auch Erinnerungen wach an Situationen, die schwierig waren; Enttäuschungen mit einem Menschen werden erinnert, Versäumtes, eigenes Verfehlen, das nicht mehr wieder gut gemacht werden kann, bittere Reue. Möglicherweise kann man sich jetzt noch versöhnen, mit dem Verstorbenen, aber auch mit sich selber. Vielleicht gelingt es nicht und tiefe Bitterkeit bleibt zurück. Gelingt die Versöhnung, dann nicht selten dann, wenn es im Zuge dieser Erinnerungsarbeit möglich wird, nicht nur den verstorbenen Menschen zu sehen, sondern die Beziehung in den Mittelpunkt zu stellen und dabei auch wahrzunehmen, welchen Anteil man selber an diesen missglückten, verletzenden Situationen hatte. Denn einen Anteil daran hat man immer. Natürlich geht es nicht darum, sich nachträglich in Schuldgefühlen zu baden, sondern es geht nüchtern darum, zu sehen, welche problematischen Beziehungseigentümlichkeiten man selber mitbringt, denn diese wird man auch in eine nächste Beziehung hineintragen. Erlebt man eine Beziehung als gescheitert, dann kann man sich fragen, wie man denn wechselseitig aufeinander eingewirkt hat, dass es zu diesem Ergebnis gekommen ist, das sicher keiner der beiden Beteiligten beabsichtigt hat. Und dann stellt sich die Frage: Will man dieses Verhalten für den Rest des Lebens beibehalten oder will man versuchen, etwas zu verändern? Man kann sich jetzt – mit dieser Erinnerungsarbeit im Bewusstsein – im wahrsten Sinne des Wortes vorstellen, wie sich in Zukunft Beziehungen zu anderen Menschen ereignen werden – allenfalls, wie enttäuscht man nach einiger Zeit in einer anderen Beziehung sein wird.
Gehen wir aber nicht von diesen schwierigen Beziehungen aus, die, je nach Schwere, eher Gegenstand einer Therapie denn einer natürlichen Trauer sein werden, dann finden wir im Trauerprozess
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