Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
schamlos benehmen: Damit verfallen wir ins Gegenteil. Oder wir sagen einem Menschen, der uns beschämt, dass wir ihm oder ihr dankbar sind für den Hinweis, weil das uns die Möglichkeit gibt, uns zu verbessern, uns zu entwickeln: Innerlich winden wir uns aber vor Scham.
Menschen, die sich leicht schämen und auch leicht zu beschämen sind, können sich dazu entschließen, sich nicht zu zeigen, sich wenn immer möglich zu verbergen. Dahinter steckt die Idee: Wenn ich mich nicht zeige, meine Werke nicht zeige, nichts Auffälliges mache, dann werde ich nicht beschämt. Das hat jedoch Folgen, abgesehen davon, dass diese Idee so nicht funktioniert. Ein Mensch, der nichts von sich zeigt, nichts preisgibt, nur immer angepasst ist, wird als »langweilig« eingestuft. Als langweilig gelten, als ein langweiliger Mensch von der Gruppe, der man zugehört, ausgeschlossen zu werden, das ist kränkend und beschämend, auf eine grundsätzliche Art. Man kann sich nicht einmal dagegen wehren.
Die Folgen sind aber noch viel umfassender und wirken sich auf die Eigenwirksamkeit aus.
Es entsteht eine Hemmung: Man riskiert nichts, wagt nichts, wird zunehmend ängstlich und unkreativ. Die Eigenwirksamkeit ist kaum mehr erlebbar, damit aber wird auch das Selbstwertgefühl schlechter. Radikale Abwehr von Scham kann zu einer depressiven Haltung führen: Nicht verarbeitete Demütigung wird zu einer Abwertung von sich selbst, aber auch des ganzen Lebens. Das eigene Leben, die eigenen Wünsche, der eigene Weg wird dann nicht gewählt – man versäumt das eigene Leben und kann dabei depressiv werden.
Zudem benehmen sich diese Menschen in der zwischenmenschlichen Beziehung gehemmt, »verschämt« und erreichen damit recht oft, dass auch die Mitmenschen gehemmt sind, nicht mehr so richtig wissen, wie sie jetzt eigentlich sein dürfen. Wir Menschen können uns nämlich nicht nur für uns schämen, wir können uns mit anderen oder auch für andere schämen.
Es wird klar: Die Abwehr von Scham, indem man sich und seine Werke nicht zeigt, bringt keine Schamfreiheit, sondern Hemmung im weitesten Sinne. Man kann der Scham nicht entgehen, also muss man lernen, besser mit Scham umzugehen.
Es gibt Menschen, die zwar gerne auf ihr Leben zurückblicken würden, sie sagen aber, es gäbe da nichts Relevantes, woran sie sich erinnern könnten. Möglicherweise haben sie ein Leben lang wenig von sich gezeigt, um sich nicht schämen zu müssen. Sie haben sich kontrolliert und dabei wenig emotional Ergreifendes erlebt. Vielleicht aber wollen sie nicht davon sprechen, können es aber für sich selber aufschreiben. Emotionen, die beschrieben werden, bringen Erleichterung, und es ist denkbar, dass sich nachher der Schleier des Nichtsehen-Wollens, der sich über die eigenen Geschichten gelegt hat, etwas lüftet.
Dennoch scheint es mir wichtig, dass einige Schamgeschichten dann einem Menschen vorgelesen werden, der mit liebevollen Blicken auf die jeweilige Situation schauen und dadurch zum Ausdruck bringen kann, dass man auch dieses Verhalten akzeptieren kann, dass man damit nicht aus der Menschheit fällt. Das bewirkt auch, dass man sich grundsätzlich mit einem liebevolleren Blick und das ganze eigene Leben gewährender und liebevoller betrachtet.
Angestrengter Perfektionismus
Man kann die Scham auch durch den Anspruch nach Perfektion abwehren. Perfekt in der Arbeit, in der Moral, sehr oft aber auch auf der Körperebene: der perfekte Body, die perfekten Zähne, die perfekten Kleider, … Die Lebensgeschichte ist dann geprägt von einem Drang nach Perfektion, oder anders: Was nicht perfekt war, ist nicht bedeutsam und wird nicht erinnert. Der Lebensrückblick hört sich dann an wie eine Folge von Höhepunkten in einem durch und durch perfekten Leben. Hört man zu, vermisst man die Erinnerung an Nichtgelungenes, an das Stoßen von Grenzen. Da das Alter selten perfekt ist, ist diese Art der Abwehr von Scham für das höhere Alter prekär. Wäre man perfekt, so die Idee, könnte nie jemand etwas bei einem sehen, das nicht in Ordnung wäre. Angestrengter Perfektionismus bedeutet, dass der Schatten nicht akzeptiert, verdrängt und projiziert oder delegiert wird. Die anderen sind dann so unperfekt und kommen sich auch so vor. Angesichts von so extrem perfekten Menschen, fällt einem alles Unperfekte an sich selber auf – und man schämt sich leicht.
Ein angestrengter Perfektionismus ist eine Herausforderung zur Schattenakzeptanz: Das meint, schattenhafte,
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