Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
damit konfrontiert werden.
Grundsätzlich wird der freundliche, anerkennende Blick uns erlauben, unser Leben wertzuschätzen in dem, was es ist. Wir müssen dann unser Leben nicht künstlich mit einer Bedeutsamkeit versehen, die es in dieser Art nicht hat, sondern wir können so authentisch wie möglich sein, unser Leben liebevoll interessiert und auch gewährend ansehen.
Niemand kann uns sagen, welcher Blick aufs Leben letztlich der richtige ist: Der freundliche Blick aufs Leben lässt aber unser Leben freundlicher erscheinen und der freundlichere Blick auf die Mitmenschen erlaubt es, mehr das auch Gute im Menschen zu sehen. – Es lebt sich besser und versöhnter damit – und das ist für das hohe Alter sicher hilfreich.
Der freundliche Blick ist auch hilfreich bei den Veränderungen, die sich im Alter ergeben: Betrachte ich meine Falten und Runzeln freundlich oder vorwurfsvoll? Das macht einen großen Unterschied. Und das gilt nicht nur für Falten und Runzeln! Der Scham des Alterns können wir liebevoll mit der Befriedigung über das viel gelebte Leben begegnen.
Schuldgefühle
Auch unbewusste oder unbearbeitete Schuldgefühle hemmen uns in unserer Fähigkeit zu erinnern. Schuldgefühle bewirken beim Lebensrückblick, dass sich eine Lebenssituation, in der man sich schuldig fühlt, über alle anderen auch möglichen Erinnerungen legt. Wo immer man mit der Erinnerungsarbeit beginnt, landet man bei dieser Verfehlung oder was man für eine Verfehlung hält.
Die Schuldgefühle 71 beziehen sich auf unser Tun, auf unser Verhalten, während die Schamgefühle sich auf unser Sein, auf unser Wesen, auf unser Selbstsein beziehen.
Wir kennen die Schuldgefühle aus dem Alltag: Wir haben etwas getan, was ein anderer Mensch oder wir selber als Unrecht empfinden, als unfair, als falsch. Wir entschuldigen uns und fragen, wie wir das Verfehlen wieder gutmachen können. Tun wir es nicht, versucht unser Kontrahent, unsere Kontrahentin, das als ungerecht Empfundene anzumahnen, uns allenfalls Schuldgefühle zu machen. Er oder sie kann sich allerdings auch einfach verstimmt zurückziehen und man weiß dann zwar, dass man etwas falsch gemacht hat, aber man weiß nicht, worum es geht. Ist man begabt für Schuldgefühle, wird man auf einen stummen Vorwurf mit Schuldgefühlen reagieren, ist man dazu weniger begabt, wird man sich ärgern.
Man braucht Schuldgefühle normalerweise nicht zu wecken: Wir haben ein Unrechtsbewusstsein. Nehmen wir wahr, dass wir etwas getan haben, was unseren moralischen Maßstäben nicht entspricht, reagieren wir mit Schuldgefühlen, mit Reue, und bieten Wiedergutmachung an. Wir wollen die gestörte Beziehung wieder in Ordnung bringen.
Gelegentlich ärgert sich jemand über uns und reklamiert Fairness, auch wenn wir uns keiner Schuld bewusst sind. Da gilt es sorgfältig zu klären: Haben wir wirklich etwas übersehen, oder dienen wir einem anderen Menschen als Sündenbock? Natürlich können wir unfaires Verhalten unsererseits übersehen haben, wir mögen Schuldgefühle nicht und wehren sie ab. Andere Menschen können aber oft auch nicht wahrnehmen, dass sie schuldhaft, das heißt auch schattenhaft, gehandelt haben und suchen sich einen Schuldigen »außen«: Sie suchen sich einen Sündenbock. Wir alle verdrängen Schuld leicht und projizieren sie auf andere Menschen: Die sind dann schuld, nicht wir. Besonders wenn hinter den Schuldgefühlen auch noch Schamgefühle verborgen sind, projizieren wir diese Gefühle und regulieren damit für einen Moment unser Selbstwertgefühl: Wir sind in Ordnung, die anderen nicht!
Schuldgefühle sind unangenehme, quälende Gefühle: Man hat etwas falsch gemacht, man ist schuld daran, dass ein anderer Mensch leidet. Diese Schuldgefühle weisen darauf hin, dass wir etwas wieder gut machen müssen, dass wir für das Thema, das zur Auseinandersetzung geführt hat, Verantwortung übernehmen müssen. Wir wollen Unrecht sühnen, Ungerechtigkeit wieder in Gerechtigkeit überführen, uns letztlich wieder versöhnen. Es ist sinnlos, in Schuldgefühlen zu baden, wir werden dadurch keine besseren Menschen. Schuldgefühle haben den Sinn, uns zu zeigen, dass wir eine Grenze überschritten haben, die entweder der andere uns oder wir uns selbst zu überschreiten nicht erlauben, und dass dieses Verhalten den einen oder beide beeinträchtigt, also wieder so weit als möglich in Ordnung gebracht werden muss.
Aber was ist denn der Maßstab? Wir haben im Laufe der Erziehung Verbote, Gebote,
Weitere Kostenlose Bücher