Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
ist nun für Levinas in erster Linie ein Gesprächspartner: Er bedroht mich nicht mit dem Tod. Ruft er meine Scham hervor, dann, weil ich in meiner Unvollkommenheit an der Idee des Vollkommenen, die er auch vertritt, gemessen werde.
Bedroht in der Sicht Sartres die Begegnung mit dem Anderen meine Freiheit bzw. zerfällt meine Freiheit unter dem Blick des Anderen, so stellt bei Levinas die Gegenwart des Anderen das »naive Recht« der Freiheit in Frage. Die Gegenwart des Anderen stellt die Spontaneität in Frage, den ungestümen Zugriff, die »gloriose Spontaneität« 70 , für die alles erlaubt ist. Der Blick des Anderen macht unsere Schamlosigkeit sichtbar. Scham bedroht so gesehen nicht die Freiheit, sondern setzt sie ein: Freiheit wird durch die Scham auf ihre zerstörerische Seite hin befragt, auf die Unverschämtheit. Und da beginnt für Levinas die Moral.
Beide Philosophen machen klar: Man kann der Scham nicht entgehen, weil man dem Blick des Anderen nicht entgehen kann. Dieser Blick ist sehr wichtig: Angesehen zu werden versichert uns in unserer Existenz. Den Blick muss man umfassend verstehen: als »wahrgenommen« werden, mit allen Sinnesmodalitäten, aber auch als »bewertet« werden. Aber auch der Andere muss umfassend verstanden werden bis hin zum Repräsentanten für das Absolute, Vollkommene. Der Blick des Anderen auf uns lässt uns aber nicht nur Scham erleben, sondern auch Freude und Stolz. Vor allem aber bewirkt der Blick auf uns, dass wir uns unserer selbst bewusst werden. Wir entwickeln ein Bewusstsein unserer selbst – damit aber können wir auch über uns selbst reflektieren, können uns verändern, wenn das wünschbar ist.
Wie erleben wir den Blick des Anderen im Alltag? Was sagen die Eltern, die Kinder, die Nachbarn? Was sagen die Kollegen und Kolleginnen? Diese Frage impliziert den Blick dieser anderen Personen, die wir als maßgebend für unser Leben anerkennen oder bestimmen, und sie kann verheerend sein und jeden etwas riskanteren Impuls hemmen. Diese Frage kann andererseits auch sehr sinnvoll sein und einen Menschen davor bewahren, Dinge zu tun, die ihn oder sie außerhalb des Beziehungsnetzes führen würden, das ihn oder sie trägt und die ihn zu einem aus der Gemeinschaft ausgestoßenen Menschen machen würden.
Diesen Blick des Anderen, ob mehr in kritischer oder liebevoller Weise, haben wir längst auch schon verinnerlicht. Er ist auch unser eigener Blick, mit dem wir gnadenlos enthüllend oder verachtend auf uns und unser Leben sehen, oder aber liebevoll, interessiert, anerkennend. Der Lebensrückblick ist ein Blick – ein freundlicher, ein kritischer, ein abwertender – und die Idee ist es, dass es ein freundlicher, verstehender Blick wird, mit dem wir uns und das gelebte Leben letztlich betrachten. Man muss das gelebte Leben nicht schönen: Man kann auch weniger Schönes freundlich, wohlwollend bedauernd betrachten.
Dieser Blick des Anderen ist notwendig, damit wir uns als Selbst verstehen können. Unser Gefühl der Identität hat immer zwei Bewegungen: Ich beurteile mich selbst, nehme meine Gefühle in bestimmten Situationen, die identitätsstiftend sind, wahr, z.. B.: Ich bin ein mitfühlender Mensch. Wenn ich das sage, sehe und beurteile ich mich auch im Angesichte der anderen und diese anderen bestätigen mir wiederum meine Identität. ´
Im Zusammenhang mit der Scham ist immer wieder zu fragen: Wende ich nur den kritischen, abwertenden, zerstörerischen Blick auf mich und auf andere? Oder auch den liebevollen Blick, der bereit ist, über Vorgefallenes zu sprechen und mildernde Umstände gelten zu lassen?
Der liebevolle Blick ist auch der freudige Blick: Wenn wir uns freuen, sind wir einverstanden mit uns, mit den anderen, mit der Welt: nicht, weil alles perfekt ist, doch aber besser als erwartet. Können wir dann auch vermehrt Freude zulassen und damit auch die drohende Verbitterung entschärfen, wird unser Blick auf unser Leben gewährender. Und die Erinnerungen, die durch die Scham aus unserem Erinnern verbannt worden sind, werden uns wieder zugänglich. Das bedeutet, dass in der Folge schwierige Situationen bearbeitet werden können und eine größere Akzeptanz unseres Lebens uns zufriedener macht.
Die Abwehr von Scham
Da die Scham uns in unserem innersten Kern trifft, aber auch dafür sorgt, dass wir diesen innersten Kern schützen, versuchen wir, ihr zu entgehen, indem wir sie auf verschiedene Weise abwehren.
Wir können die Scham so abwehren, dass wir uns
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