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Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)

Titel: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Kast
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eigentlich schämen müssten.
    Können wir über diese Zusammenhänge reflektieren, so können wir zumindest versuchen, uns selbst mit einem freundlicheren, liebevolleren Blick zu betrachten und nicht mit diesem gnadenlos fordernden. Und wenn es gelingt, auch die Mitmenschen mit dem freundlichen Blick anzusehen, werden sich Beziehungen mit Sicherheit verbessern. Allenfalls braucht man therapeutische Hilfe, um die Schamkomplexe ins Bewusstsein zu heben und an ihnen zu arbeiten.
    Komplexe mit den mit ihnen verbundenen Emotionen verursachen Träume. Träume arbeiten aber auch an unseren Komplexen, vor allem, weil sie andere und mehr emotionale und kognitive Verbindungen herstellen als das bewusste Wachleben erlaubt. 63 Auch Träume, nicht nur unser bewusstes Bemühen, verändern Komplexepisoden.
    So erzählt dieser Mann, er habe oft Träume, in denen er »böse« angeschaut werde. Das löse in ihm Angst und Unsicherheit aus. Noch hat er diese Träume nicht genau erinnert. Das will er auch gar nicht. Es genügt ihm zu wissen, dass er wieder so einen lästigen Traum gehabt hat.
    Diese Träume korrespondieren mit der Erfahrung, dass er Menschen, die ihn ernst anschauen, als ihm gegenüber kritisch, argwöhnisch versteht. Er muss lernen, den wirklich beschämenden Blick von einem ernsten, nachdenklichen Blick zu unterscheiden.
    Das gelingt ihm nach und nach durch die therapeutische Beziehung und dank Träumen, in denen er erlebt, dass er auch von Personen träumt, die ihn ermutigend anblicken und ihn überhaupt ermutigen.
    Er erzählt ein Beispiel: »Ich singe vor einer Gruppe mit Mikrofon. Es hört sich ganz anständig an. Da steht ein alter Mann am Rande und schaut mich kritisch an. Ich verstumme. Da rufen die anderen, weiter! Weiter! Sie klatschen und feuern mich an. Da singe ich weiter und schaue den missbilligenden Mann nicht mehr an.«
     
    Auf diesen Traum war er stolz: »Am Anfang war es wie immer: Ich mache etwas, ich kann ja ein wenig singen, dann sagt jemand etwas Kritisches, oder ich denke, was denken denn die anderen, wenn der sich so produziert – und dann höre ich auf. Das heißt, meistens beginne ich gar nicht. Das läuft ja viel früher in meinem Kopf ab. Aber dieses Mal ist es eine ganze Gruppe, die mich anfeuert – ziemlich jugendlich sogar! Und ich kann weiter singen und ich beachte den Missbilligenden nicht mehr.«
    Das Arbeiten an der Komplexepisode in Verbindung mit Träumen zeigt, dass anderes Verhalten möglich ist – und dieses andere Verhalten ist mit freudigem Stolz verbunden. Der Traum zeigt zwar noch den Konflikt auf zwischen dem Wunsch, sich zu zeigen zu wollen, und der Not, sich verbergen zu müssen. Doch der Traum unterstützt deutlich denjenigen, der sich da zeigt und zeigen will.
    Das Lebensthema, das hier entbunden wurde, war das Bedürfnis, sich lustvoll in diesem Leben sichtbar zu machen und anerkennend gesehen zu werden.
Der Blick des anderen
    Scham ereignet sich zwischen dem anderen und mir. Sie tritt plötzlich und unerwartet auf, überfällt mich geradezu, wenn der andere mich mit Hohn und Spott überschüttet, wenn hämische Geringschätzung erlebbar wird, wenn ich gedemütigt werde. In diesen Situationen wendet sich unser Blick auf uns selbst. Wir werden uns unserer selbst in dieser Situation bewusst: Ein Aspekt unserer Identität wird als unzulänglich, unpassend, ungehörig empfunden – und gerade dieses Unpassende steht in vollem Licht. Wir empfinden uns selbst als ohnmächtig, den anderen Menschen ausgeliefert, die uns allmächtig erscheinen. Der vernichtende Blick des anderen wird zu unserem eigenen vernichtenden Blick. Wir schämen uns. Schon die Wortkonstruktionen weisen auf das Selbstreflexive hin. Wir werden rot oder wir erblassen, stottern, verlieren die Geistesgegenwart. Mit Humor könnte man die Situation retten, wenn dieser nicht auch ganz verloren gegangen ist. Natürlich wehren wir auch die Scham ab: Wir lachen, lachen mit den anderen – wenigstens fühlen wir uns dann nicht ausgestoßen.
    Beobachtet und beschrieben werden in der Folge dann interessanterweise Selbstberührungen: die Hände bedecken das Gesicht, das Gesicht wird berührt, als müsste man sich versichern, dass wir das Gesicht doch nicht verloren haben; man wendet sich ab: der Kopf wird gesenkt, der Blick abgewandt – man schaut den anderen nicht mehr in die Augen.
    Der Blick des anderen Menschen ist wichtig zur Entwicklung der Scham. Darüber hat einschlägig Jean-Paul Sartre geschrieben. 64

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