Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Seidler referiert und reflektiert ausführlich diesen Text. 65 In seinem Buch »Die Wörter« (1968) 66 , seiner Autobiografie, schreibt Sartre:
»Meine Wahrheit, meinen Charakter und meinen Namen hatten die Erwachsenen in der Hand; ich hatte gelernt, mich mit ihren Augen zu sehen; ich war ein Kind, ein Monstrum, das sie mit Hilfe ihrer eigenen Sorgen fabrizierten. Waren sie nicht da, so hinterließen sie ihren Blick, der eins wurde mit dem Licht; ich lief und hüpfte herum unter diesem Blick, der mir meine Natur eines vorbildlichen Enkels aufzwang, der mir meine Spielsachen und das Universum schenkte.« 67
Der Vater von Sartre starb, als Sartre zwei Jahre alt war. Zusammen mit seiner Mutter lebte er bei den Großeltern – beide waren sie »Kinder«; die Mutter war wenig autonom, beide unter der Fuchtel eines zwar liebenden, aber doch recht despotischen Großvaters, der dem Enkel zwar viele Welten erschloss – Theater zu spielen war eine ihrer Hauptspiele –, aber der auch sehr deutlich Forderungen an den Enkel stellte. Seinem Blick war äußerlich, aber auch innerlich nicht zu entgehen. Den Blicken der Anderen entgeht man als Kind – und auch später – nicht: das die Folgerung von Sartre. Das führt ihn zu seiner berühmten Analyse des Blicks.
Für Sartre ist es empörend, dass wir immer im Blick des Anderen sind, der Andere uns sehen kann, wie er oder sie will, oder eben auch nicht. Der Andere hat die Freiheit, uns zu beurteilen und auch zu verurteilen. Damit er oder sie das nicht tut, versuchen wir, die anderen Menschen zu verführen, um liebevolle Blicke zu ergattern. Aber unsere Möglichkeiten sind beschränkt.
Der Andere sieht mich aus einer Perspektive, die ich selber nie einnehmen kann. Wie er mich sieht, was er dabei denkt, das kann ich nicht wissen: Das ist sein Geheimnis, das ich nicht ergründen kann; der Andere hat also Macht über mich. Dieser Andere ist nicht einfach der andere Mensch, sondern wirklich der Andere, den man auch nicht mehr zu einem Du machen kann, uneinholbar, unheimlich. Der Mensch, mit dem wir eigentlich in einem Dialog stehen, kann plötzlich zu einem Anderen werden, unheimlich, fremd – unzugänglich für uns und daher angstauslösend.
Unter dem aggressiven Blick, dem entwertenden Blick des Anderen – und über diesen Blick spricht Sartre vor allem –, zerbröselt die eigene Freiheit, zerbröselt die eigene Identität.
Angesichts dieses Skandalons bleibt die Selbstverantwortung, das Engagement für sich selbst – ungeachtet aller Blicke der Anderen.
Entwicklungspsychologisch gesehen entsteht die Möglichkeit zur Selbstreflexion durch den Blick dieses Anderen. Der Blick des Anderen wird verinnerlicht. So, wie der Andere uns ansieht, sehen wir uns auch selbst an, urteilen wir über uns selbst. Erinnern wir den Blick des Anderen als strafenden, kritisierenden Blick, so werden wir uns selbst leicht strafend und kritisierend wahrnehmen. In der gleichen Weise verhalten wir uns dann auch anderen gegenüber. Wir werden in der Folge nicht nur schambegabt sein, sondern auch begabt, andere zu beschämen.
Im Lebensrückblick hat der eigene, aber auch der Blick des Anderen eine große Bedeutung. Zum einen, weil wir sehr oft erinnern, was andere damals über uns gesagt haben, über uns gedacht haben – so wirklich wissen wir es ja selten, aber wir meinen zu wissen, was die anderen über uns denken. Und daran erinnern wir uns wieder.
Dass die Entwicklung unserer Persönlichkeit auch abhängig ist von der Weise, wie andere Menschen uns sehen, ist auch ein wichtiges Thema von Max Frisch.
Er hat in seinem Tagebuch 1948 geschrieben: »In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die andern in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! Auch wir sind die Verfasser der andern; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage.« 68
Aber: andere Menschen betrachten uns auch liebevoll.
Emanuel Levinas, etwa zur gleichen Zeit Professor in Paris wie Jean-Paul Sartre, hat sich mit Sartre und seiner Analyse des Blicks auseinandergesetzt. 69 Der Andere, das »Antlitz«, wie er den Anderen nennt, ist nicht nur der andere Mensch; das ist zwar zunächst der andere Mensch, aber in diesem anderen Menschen begegnen wir auch dem ganz Anderen, was wir nie wirklich verstehen können und das uns weit übersteigt, letztlich dem Kosmos.
Der Andere
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