Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
Normen und Werte verinnerlicht. Wir wissen, was man tun und was man lassen soll. Handeln wir diesen Geboten zuwider, können wir mit einem Schuldgefühl reagieren. Nicht selten leiden wir unter Schuldgefühlen, weil wir uns nicht so verhalten haben, wie es uns die Autoritäten einst vermittelt haben. Aber dieser Maßstab gilt nicht mehr für uns. Menschen müssen sich im Zuge ihrer weiteren Entwicklung damit auseinandersetzen, ob diese überlieferten Gebote wirklich auch für sie stimmen, absolut oder nur in bestimmten Situationen. Durch diese Reflexion entwickeln sie eigene Werte, denen sie sich verpflichtet fühlen. Von diesen sozial vermittelten Schuldgefühlen unterscheiden wir das Gewissen, als eine in irgendeiner Form »innere Stimme« verstanden, die uns sagt oder die uns fühlen lässt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Andere Menschen mögen unser Verhalten sogar akzeptieren, aber wir selber fühlen, dass es so für uns nicht stimmt. Die Schuldgefühle, die von der Stimme des Gewissens verursacht sind, die »Gewissensbisse«, sind schwerer zu ertragen. Gerade diese Schuldgefühle sind auch deutlich verbunden mit Scham: Scham darüber, dass man hinter den eigenen Werten zurückgeblieben ist. Und in diesen Zusammenhängen packt uns auch die Reue darüber, dass wir uns verhalten haben, wie wir uns verhalten haben. Dann wollen wir etwas wieder gutmachen.
Wenn wir wirklich schuldig geworden sind, und das werden wir immer einmal wieder, dann geht es darum, diese Schuld zu akzeptieren.
Wenn etwas nicht in Ordnung war, etwas zu bereuen ist, eine Verfehlung in der eigenen Wahrnehmung vorliegt, dann legt sich diese Wertung über das ganze Leben. Das ganze Leben ist dann nicht in Ordnung, zumindest grau getönt. Wird etwas in Ordnung gebracht, dann hellt sich das Leben wieder auf. Auch diese Erfahrung generalisiert sich glücklicherweise. Man braucht nicht »alle« Probleme zu lösen: Sind einige Knoten gelöst, verändert sich die Sicht auf das Leben.
Es liegt Würde darin, wenn wir Menschen zu Fehlern, die wir gemacht haben und die zu Situationen geführt haben, die nicht mehr verändert werden können, stehen. – Sicher, wir werden sie bereuen, wir werden gutmachen, wenn es geht: Aber es ist so. Keine Ausreden, keine Beschönigungen, aber auch keine Zerfleischung. Ich übernehme die Verantwortung dafür und reflektiere darüber, was in die Verantwortung genommen werden muss.
Schuldgefühle – früher und heute
Mir fällt immer wieder auf, dass bei Unerledigtem oder auch bei Situationen, die als schuldhaft empfunden und daher mit Reue verbunden sind, Menschen die Tendenz haben, die damalige Verfehlung aus der jetzigen Situation zu bewerten und nicht aus der Situation, in der sie aus ihrer Sicht schuldhaft gehandelt haben.
Eine Frau, 72, hat vor mehr als 50 Jahren ihr uneheliches Kind zur Adoption gegeben. Das quält sie noch heute. Als sie, in stabilen Lebensverhältnissen lebend, Kontakt mit ihrer erwachsenen Tochter aufnehmen wollte, war diese bereits tot, mit dem Auto tödlich verunglückt. »Das Schicksal hat mir keine Chance gelassen, meine Verfehlung wieder gutzumachen.« Sie war der Ansicht, sie hätte das Kind nicht weggeben müssen. »Es hätte bestimmt Lösungen gegeben, so eine schlimme Sache war das doch nicht.« Als wir Erinnerungen im Umfeld der Zeit, als sie schwanger wurde, in das Erleben zurückholten, wurde deutlich, dass sie damals sehr ängstlich war, »keine Ahnung hatte, wo das Leben hingehen sollte«, auch keine stabilen Beziehungen hatte. Der Kindsvater war wie sie selber 17 Jahre und nicht in der Lage, ihr beizustehen; ihre Mutter war zu der Zeit in der Psychiatrie, ihr Vater war ein arbeitsloser Alkoholiker. Wer hätte ihr da beistehen können? Indem wir imaginativ diese Zeit noch einmal in die Erinnerung zurückholten und damit auch der Reflexion zugänglich machten, wurde ihr klar: Es war in ihrer Situation damals eben doch eine schlimme Sache gewesen. Sie »sah« sich in ihrer Imagination zunächst, wie sie sich auf einem Foto von damals erschien: schüchtern, lieb – unsicher. Dann erinnerte sie sich, wie sie, schon im fünften Monat schwanger, erst entdeckte, dass sie schwanger war. So lange wollte sie es nicht wahrhaben. Das Entsetzen ihres Freundes, der sofort sagte, das Kind könne nicht von ihm sein. Ihr Entsetzen, dass der geliebte Freund ihr Untreue unterstellte, sie im Stich ließ. Der Versuch, mit dem Vater zu sprechen, der den Freund umbringen wollte, wenn er ihn
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