Wasdunkelbleibt
Rechtsmediziner dran.« Jassmund setzte das Glas an die Lippen und trank das halbe Bier in einem Zug aus. »Tut gut. Tut sehr gut. Scheißkälte da draußen. Wann sind wir soweit, dass wir den Winter in einem warmen Land verbringen können?« Er wischte sich den Schaum aus dem Vollbart, der sich auf seinen Wangen kräuselte wie Putzwolle.
»Nie«, antwortete Nero lapidar. »Wir sind die ewigen Durchhalter. Gehaltsempfänger. Mietwohnungsbewohner.«
Er war unzufrieden. Ich könnte gehen und den Winter anderswo verbringen. Wenigstens zwei, drei Monate. Dann wäre das Schlimmste überstanden. Ich müsste einfach das Jahr über Aufträge auf Halde legen und dann im Süden abarbeiten. Jassmund war geschieden und zog seinen Sohn alleine auf. Ich dagegen hatte mich um niemanden zu kümmern. Es klang seltsam in meinen eigenen Ohren, unglaubwürdig beinahe, aber ich war frei.
Jassmund machte sich über die überbackenen Specktomaten her. »Lecker. Selbstgekocht?« Er sah mich keck an. Rund wie ein Baumkuchen. Genießertyp wie ich. Für Leute wie uns wurde das Leben erträglich, wenn wir was Anständiges in den Magen bekamen.
»La Méditerranée in Ohlkirchen.«
»Kea hat dem Maître de Cuisine die Biografie ge-ghostet.«
»Gegen Essen? Lebenslänglich?« Jassmund sah mich neidisch an.
»Nicht ganz. Ich zahle, bekomme aber einen großzügigen Rabatt.«
»Traumhaft. Leider habe ich keinerlei Veranlagung zum Kochen. Wenigstens nicht so, dass ich mein Leben in einer Küche verbringen würde.«
»Claude-Yves sagt, Kochen sei ein Akt der Liebe. Er täte es nur für Freunde.« Von der Seite blickte ich Nero an.
»Also betrachtet er seine Gäste als seine Freunde. Tolle Einstellung!« Jassmund nahm sich vom Oija. »Und was ist das?«
»Was Scharfes. Ein Rezept aus Tunesien. Mit Würstchen, Chilis, Eiern.«
»Super, ich mag Stilbrüche.«
Genau wie ich. Ich fragte mich, weshalb ich mir, die ich Peter Jassmund und Nero Keller zur selben Zeit kennengelernt hatte, den ehrgeizigen Misanthropen ausgesucht hatte und nicht dieses Leckermaul. Jassmund wirkte äußerlich wie ein Grizzly, kam im Innern aber mehr einem Teddybär gleich.
Nero nahm sich selbst ein Bier aus dem Kühlschrank. Er warf mir einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte den Kopf. Bier auf Wein, das lass’ sein.
»Der Junge ist erst 18«, berichtete Jassmund. »Ist mit seinem Roller zum Wörthsee gefahren. Der Roller stand am Straßenrand. Der Junge lag im Wasser.«
»Wie habt ihr ihn gefunden?«, fragte Nero.
»Jemand hat angerufen. Ein Mann, der mit seinem Husky unterwegs war.«
»Habt ihr die Eltern benachrichtigt?«
»Haben wir. Die sind aus Ohlkirchen. Von daher konnte ich jetzt ganz entspannt bei euch vorbeikommen.«
›Bei euch.‹ Ich musste schmunzeln. Während ich meine Gesichtszüge in Ordnung brachte, um Nero nicht zu reizen, tönte Jassmunds Stimme plötzlich ganz laut in meinem Kopf. Ein 18-jähriger aus Ohlkirchen, der auf einem Roller herumfuhr? Wie viele mochte es davon geben? Wenn ich nachmittags im Ort unterwegs war, um einzukaufen oder Juliane zu besuchen, sah ich reichlich Jugendliche auf Rollern. Sie machten die Bushaltestelle zu ihrem Headquarter, ein Pentagon aus verschmiertem Plexiglas, auf das die Gemeindeverwaltung schwarze Vogelaufkleber hatte pappen lassen, mit einem ständig überquellenden Mülleimer und einer Bank aus durchlöcherten Metallsitzen, die mehr an das Schutzgitter eines Kellereingangs erinnerte als an eine gemütliche Sitzgelegenheit. So sah die deutsche Provinz aus. Niemand störte sich an den Youngsters, die Colaflaschen zu ihren Meetings mitbrachten, und niemand fragte nach, was sie in ihr Coke mixten. Sie rauchten, und auch hier fragte niemand nach, denn die Bushaltestelle diente nur zweimal am Tag der Öffentlichkeit. Morgens um halb acht und nachmittags um vier. Zwei Busse pro Tag, das genügte, um das schmuddelige Häuschen zu rechtfertigen. Ärger gab es nur, wenn die Teenager ihre Roller aufheulen ließen wie Harleys und sich, aufgeputscht von berauschenden Substanzen, gegenseitig die wilde Jagd auf der Ohlkirchener Hauptstraße lieferten.
»Die Spurenlage gibt nicht viel her. Das Matschwetter macht es uns schwer. Wir haben grob die Fußspuren von drei Personen zur Auswahl. Der Junge, das können wir mit Sicherheit sagen, ist wohl eine Weile am Seeufer auf und ab gegangen. Seine Schuhe haben das Gras niedergedrückt. Dann gibt es noch zwei andere Abdrücke. Eines der Profile ist an der Böschung zu
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