Wasdunkelbleibt
stehen lassen‹? Was hatte er getan? Ein dummer Zufall, dass sein Patch noch nicht so weit war. Mehr nicht.
»Die Kollegen sind dran, die Identität von x 03 herauszufinden. Sie überprüfen, welche Datenlecks der Hacker geschlagen habt, und stopfen die Webseiten.«
Es kann nicht wegen dem Patch sein, dachte Nero, während er an seinem Tee nippte. Deswegen nicht. Woncka hat den Zeitplan für gut befunden. Er weiß, dass der Patch erst in drei Tagen zum Hochladen verfügbar ist. Er weiß das. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn sich die manipulierte Webseite zeitgleich mit dem neuen Patch hochgeladen hätte.
»Sie sind raus, Keller. Morgen gebe ich eine Pressekonferenz. Freiflug sitzt neben mir. Nicht Sie.«
Gott sei Dank, schoss es Nero durch den Kopf. Er hasste Pressekonferenzen. Der Schwindel kam wieder. Der Tee schmeckte grässlich, aber er hatte entsetzlichen Durst. Etwas schnürte seine Kehle zu.
»Herr Polizeioberrat …«
Woncka hob die Hand. »Sie hätten zu mir kommen müssen. Das hätten Sie nicht mit sich selbst ausmachen dürfen. Ich weiß, dass Sie sich mit Freiflug gut verstehen. Er hat entweder keinen Schimmer, weil Sie ihm nichts gesagt haben, oder er ist loyal. Das möchte ich jetzt gern von Ihnen hören.«
Nero verstand kein Wort. Er sah Wonckas Mund sich öffnen und schließen, die trockenen Lippen sich runden und spreizen. Ich habe einen Schlaganfall, dachte Nero und hielt sich den Kopf. Ich verstehe ihn nicht. Ich habe meine Sprache verloren.
»Ich begreife nicht«, begann er und wusste, dass er verloren hatte. Er würde diese Schlacht mit Woncka nicht gewinnen, wie er die meisten trotz allem für sich entschieden hatte. Weil er heute schwach war. Er war angezählt, er lag am Boden, sein Körper wollte, konnte nicht mehr. Ansonsten hätte er mit ein paar klugen Schachzügen Woncka um Geduld gebeten. Was meinte er damit, Freiflug sei loyal?
»Ich beurlaube Sie!« Woncka trank seinen Kaffee aus. »Wenn Sie bereit sind, mir eine Erklärung zu liefern und glaubwürdig signalisieren, dass Sie Beruf und Privatleben von nun an trennen, wenn der Schaden klein gehalten werden kann, dann lasse ich mit mir reden. Wir werden sehen müssen, Keller.«
»Privatleben?«, echote Nero. Was konnte sein Privatleben mit einer manipulierten Website zu tun haben?
Woncka verließ die Bäckerei. Der Wind schlug seinen Mantel zurück. Das dunkelrote Futter züngelte um seine Beine.
Nero fand aus der Erstarrung, weil seine Oberschenkel nass wurden. Er bemerkte, dass sein Becher umgekippt war und der Tee über die Tischplatte floss und auf seine Hosen tropfte. Um seine Brust schloss sich eine Schraubzwinge. Unfähig, Luft zu holen, den Mund zu öffnen und um Hilfe zu rufen, hob er die Hand. Immerhin, seine Hand funktionierte noch. Er warf seinen Teller auf den Boden, lauschte dem Klirren, warf Wonckas Teller hinterher, seinen Becher, seine Kuchengabel. Als er selbst auf den Boden rutschte, kamen ihm die weißen Scherben wie Federn vor, die um ihn herumschwebten, um es ihm bequem zu machen. Er sah das freundliche und etwas ratlose Gesicht der Verkäuferin, die sich über ihn beugte und etwas sagte, das er nicht verstand. Er verstand überhaupt nichts mehr.
22
In meinem ganzen Leben war ich nicht so erschreckt worden. Dass man mich überhaupt benachrichtigte, hatte ich Neros Pedanterie zu verdanken. In seiner Brieftasche steckte ein roter Zettel mit meiner Handynummer. ›Bitte im Notfall unbedingt verständigen‹. Danke, Herr Keller, dass Sie immer so vorausschauend sind.
Die Krankenschwester, die mich aus meinem rotweinumnebelten Schlaf riss, sagte, Nero Keller sei als Notfall eingeliefert worden, es bestehe Verdacht auf einen Herzinfarkt, er sei nicht bei Bewusstsein. Ich war so verblüfft, dass ich vergaß zu fragen, in welche Klinik sie ihn gebracht hatten. Ich musste die Rückruftaste drücken und nachfragen.
»Von wo haben Sie angerufen?«
»Deutsches Herzzentrum. In der Lazarettstraße in München-Neuhausen.«
Ich zog mich an, schnappte meine Tasche und startete den Alfa. Auf dem Weg nach München überschritt ich sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen.
Ich hatte gedacht, Nero würde ewig leben.
23
Hauptkommissar Markus Freiflug hätte sich selbst nie als besonders misstrauischen Menschen beschrieben. Irgendwie war er nach seiner Ausbildung in einer unfertigen persönlichen Phase hängen geblieben. Deshalb die langen Haare und der Unwille, Anzug und Krawatte zu tragen. Er war
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