Wasdunkelbleibt
politisch gesehen weder ein Linker noch ein Rechter. Er verstand sich als bodenständigen Bajuwaren, der seine Überzeugungen gern für sich behielt und dem es Spaß machte, durch sein Äußeres die Leute auf eine falsche Spur zu locken. Markus Freiflug hatte keine Freundin und keine Kinder. Donnerstags ging er mit ein paar Kumpels zum Bowling. Damit war sein Privatleben ausgeschöpft. Er war gern allein. Wenn er nach der Arbeit nach Hause kam, und das war meistens spät, legte er die Füße hoch und sah fern. Oder er programmierte. Trainierte ein paar IT-Skills. Nicht aus Ehrgeiz, sondern weil es ihn interessierte. Erst die Freundschaft mit Nero hatte ihm leise Zweifel eingegeben, ob sein Leben auf der richtigen Schiene verlief. Er war in den frühen Dreißigern, die Uhr tickte noch nicht allzu laut. Aber Neros Sehnsucht nach einer Frau und einem Zuhause hatte Freiflug mit dem Gedanken konfrontiert, dass es mehr geben könnte im Leben, als er bislang für wichtig gehalten hatte. Mehr als einen faszinierenden Job und ein paar nette Stunden auf der Bowlingbahn. Womöglich war er ein zu trockener Typ, um große Träume zu hegen. Anders als Nero, in dessen dunkelbraunen Augen immer so eine Sehnsucht loderte – wie bei einer Zooantilope, die am Gehegezaun stand und in die Ferne sah, als ahnte sie, dass es irgendwo dort draußen die Freiheit gab, die Weite der Savanne. Etwas, wofür es sich lohnte, eine Weile durchzuhalten.
Er erfuhr von Neros Zusammenbruch, weil Kea ihn anrief. Dass Nero nach dem Treffen mit Woncka nicht zurückgekommen war, hatte ihn irritiert, aber nicht beunruhigt. Sein Kollege neigte dazu, nach Unterredungen mit dem Chef eine Weile in der Versenkung zu verschwinden, um mit sich selbst ins Reine zu kommen.
Der Anruf schreckte ihn aus der Konzentration. Ärgerlich sah er auf die Uhr. Kurz nach zwölf! Er war völlig steif. Auf dem Bildschirm flimmerten Zahlenkolonnen. Er nahm den Hörer ab.
»Freiflug?«
Das Blut sackte ihm in den Magen. Er sagte »ja«, »nein«, »klar« und versprach, sofort zu kommen. Auf dem Weg zum Parkplatz machte er im Waschraum Halt. Dort traf er Roderick.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragte Bodo Roderick in seiner spröden Art. Selbst wenn er nett sein wollte, klang er verklemmt.
»Nero ist ins Herzzentrum in Neuhausen eingeliefert worden. Verdacht auf Herzinfarkt.« Freiflug trank Wasser in großen Schlucken vom Hahn.
Roderick wurde knallrot, was ihm bei seinem weißblonden Haar nicht wirklich gut stand. »Was?«
»Weißt du, wann er von der Unterredung mit Woncka zurückkam?«
»Unterredung mit Woncka?« Roderick starrte verwirrt in den Spiegel, wo ihm Freiflugs blasses Gesicht begegnete.
»Ach, vergiss es. Gib dem Team Bescheid, okay?«
Roderick nickte mit weit aufgerissenen Augen, während Freiflug bereits aus der Tür rannte.
24
Sie hatten Nero abgeschirmt. Ich durfte nicht zu ihm. Normalerweise hätte ich einen ziemlichen Tanz aufgeführt, aber der Schock hatte mich verändert. Ich wohnte meinem Leben bei, als befände ich mich in einer tiefen Narkose und würde von oben zusehen, wie man mich durch das Dasein bugsierte, von Situation zu Situation.
»Verdacht auf Herzinfarkt«, sagte die Ärztin, die mich kurz in ihr Sprechzimmer bat. »Es sieht nicht sehr gut aus. Ich will Ihnen keine Angst machen, aber auch nichts beschönigen. Klagte Ihr Lebensgefährte in letzter Zeit über Herzschmerzen, Engegefühl in der Brust, Atembeklemmungen?«
Ich schüttelte stumm den Kopf.
»Raucht er?«
»Selten.« Nach dem Sex. Auch dann nicht regelmäßig.
»Bluthochdruck?«
»Ich wüsste nicht.« Verdammt, was wusste ich über Nero?
»Stress im Job?«
»Allerdings. Und nicht zu knapp.«
»Gott sei Dank ist der Rettungswagen sofort zur Stelle gewesen. Das hätte übel ausgehen können. Wir checken Herrn Keller gründlich durch.«
Die Ärztin eilte zum nächsten hoffnungslosen Fall. Benommen stand ich auf dem Flur.
Stress im Job. Ich wusste, Nero kam mit seinem Vorgesetzten nicht aus. Wegen der geplatzten Träume eines Forschungsjahres war er frustriert. Er hatte sich über Bastians Tod aufgeregt. Eine Menge Dinge gingen ihm nahe, ohne dass er es zeigte. Er nahm sich zuviel zu Herzen. Schönes Wortspiel, dachte ich traurig. Wer wusste schon, wie viel an der Psychosomatik wirklich dran war. Ein schwarzes Gefühl hüllte mich ein. Schuld, Scham, weil ich keinen Schimmer hatte, wie es Nero in letzter Zeit gegangen war? Ich, die sich nur für ihre eigene
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