Washington Square
hätte.«
»Ihre Art zu denken ist so unnatürlich«, sagte Mrs. Almond, die jede Gelegenheit genoß, mit ihrem Bruder über Lavinias Eigenarten sprechen zu können. »Ich sollte dir nicht sagen, daß sie mich über Mr. Townsend ausgefragt hat. Aber ich sagte ihr, daß ich es tun würde. Sie möchte immer alles verheimlichen.«
»Und doch platzt sie gelegentlich mit etwas so plump heraus wie sonst niemand. Sie ist wie ein Leuchtfeuer – |53| pechschwarze Finsternis wechselt mit blendender Helligkeit! Aber was hast du ihr denn gesagt?« fragte der Doktor.
»Dasselbe, was ich auch dir sage – daß ich nur sehr wenig von ihm weiß.«
»Lavinia muß darüber arg enttäuscht gewesen sein«, sagte der Doktor. »Es hätte ihr mehr behagt, wenn er sich irgendeines romantischen Verbrechens schuldig gemacht hätte. Aber wir müssen die Menschen eben nehmen, wie sie sind. Wie ich höre, ist unser Gentleman der Vetter des Knäbleins, dem du die Zukunft deines kleinen Mädchens anvertrauen willst.«
»Arthur ist kein Knäblein, er ist ein sehr alter Mann; wir beide werden nie so alt werden! Er ist ein entfernter Verwandter von Lavinias Protegé. Der Name ist derselbe, aber man hat mir zu verstehen gegeben, daß es Townsends und Townsends gibt. So sagte mir Arthurs Mutter; sie sprach von ›Linien‹ – jüngeren Linien, älteren Linien, untergeordneten Linien –, als ob es ein Königshaus wäre. Arthur gehört anscheinend zur herrschenden Linie, nicht aber dieser junge Mann der armen Lavinia. Darüber hinaus weiß Arthurs Mutter sehr wenig über ihn; sie hat lediglich ein vages Gerücht gehört, daß er ›abenteuerlustig‹ gewesen sein soll. Aber ich kenne seine Schwester ein wenig, und die ist eine sehr anständige Frau. Ihr Name ist Mrs. Montgomery; sie ist Witwe mit einem kleinen Vermögen und fünf Kindern. Sie wohnt in der Second Avenue.«
»Und was sagt Mrs. Montgomery über ihn?«
»Daß er Talente hat, durch die er sich hervortun könnte.«
»Nur ist er faul, was?«
»Das hat sie nicht gesagt.«
|54| »Familienstolz«, sagte der Doktor. »Was ist er von Beruf?«
»Er hat keinen; er sieht sich nach etwas um. Ich glaube, er war früher einmal bei der Marine.«
»Früher einmal? Wie alt ist er denn?«
»Ich nehme an, er ist über dreißig. Er muß sehr jung zur Marine gegangen sein. Ich glaube, Arthur hat mir erzählt, daß er ein kleines Vermögen geerbt hat, was womöglich der Grund war, daß er die Marine verließ – und daß er in ein paar Jahren alles durchgebracht hat. Er reiste in der ganzen Welt herum, lebte im Ausland und amüsierte sich. Ich glaube, es war eine Art System, eine Theorie, die er hatte. Er kam unlängst nach Amerika zurück, um, wie er Arthur sagte, ein ernsthaftes Leben zu beginnen.«
»Ist es ihm demnach ernst mit Catherine?«
»Ich sehe nicht ein, warum du da skeptisch sein solltest«, sagte Mrs. Almond. »Mir scheint, du bist Catherine nie gerecht geworden. Du mußt bedenken, daß sie Aussicht auf dreißigtausend im Jahr hat.«
Der Doktor warf einen flüchtigen Blick auf seine Schwester und sagte dann mit einem ganz leichten Anflug von Bitterkeit: »Wenigstens du weißt sie zu schätzen.«
Mrs. Almond errötete.
»Ich meine nicht, daß das ihr einziger Vorzug ist, ich meine einfach, daß es ein großer Vorzug ist. Sehr viele junge Männer denken so; und ich habe den Eindruck, daß du dir dessen nie bewußt geworden bist. Du hast ihr gegenüber immer so kleine Anspielungen gemacht, als ob sie nicht zu verheiraten sei.«
»Meine Anspielungen sind so gutmütig wie die deinen, Elizabeth«, sagte der Doktor offenherzig. »Wie viele Bewerber hat Catherine mit all ihren Aussichten denn |55| gehabt – wieviel Beachtung ist ihr jemals zuteil geworden? Catherine ist kein Mädchen, das nicht verheiratet werden kann, aber sie ist völlig unattraktiv. Welchen andern Grund gäbe es denn sonst für Lavinia, so entzückt zu sein von der Vorstellung, daß ein Liebhaber im Haus ist? Nie zuvor war einer da, und Lavinia mit ihrer empfänglichen, teilnehmenden Art ist nicht gewöhnt an diese Vorstellung, die ihre Einbildungskraft entzündet. Ich muß den jungen Männern von New York lassen, daß sie mir sehr wenig berechnend vorkommen. Sie bevorzugen hübsche Mädchen, lebhafte Mädchen, Mädchen wie deine. Catherine ist weder hübsch noch lebhaft.«
»Catherine ist vollkommen richtig; sie hat einen ganz eigenen Stil – und das ist mehr, als meine arme Marian besitzt, die überhaupt keinen
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