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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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sehen. Er hatte alle namhaften Schauspieler gesehen, er war in den bedeutendsten Theatern von London und Paris gewesen. Aber die Schauspieler verhielten sich stets wie die Autoren – sie übertrieben immer. Er war bei allem für das Natürliche. Plötzlich hielt er inne und sah Catherine mit seinem Lächeln an.
    »Das ist der Grund, weshalb ich Sie gern habe; Sie sind natürlich. Verzeihen Sie«, fügte er hinzu, »Sie sehen, ich bin selbst natürlich.«
    Und ehe sie Zeit fand, sich Gedanken zu machen, ob sie ihm verzeihe oder nicht – später, als sie Muße dazu hatte, wurde ihr klar, daß sie ihm verzieh –, begann er über Musik zu sprechen und sagte, sie bereite ihm das größte Vergnügen seines Lebens. Er hatte all die großen Sänger in Paris und London gehört – Pasta und Rubini und Leblache – und erst daraufhin könne man mit Bestimmtheit sagen, man wisse, was Singen sei.
    »Ich singe selbst ein wenig«, sagte er. »Ich werde es Ihnen einmal vorführen. Nicht heute, aber ein anderes Mal.«
    Und dann erhob er sich zum Gehen. Aus Versehen hatte er versäumt zu sagen, er werde ihr vorsingen, wenn sie ihm vorspiele. Es fiel ihm erst ein, als er bereits auf die Straße gelangt war; aber er hätte sich keine Vorwürfe machen müssen; denn Catherine hatte sein Versäumnis nicht bemerkt. Sie dachte nur, »ein anderes Mal« klang höchst erfreulich; es schien sich über die Zukunft hin auszubreiten.
    Obgleich sie beschämt und verlegen war, schien ihr |51| das doch um so mehr ein Grund zu sein, ihrem Vater zu erzählen, daß Morris Townsend zu Besuch gewesen sei. Sie verkündete diesen Tatbestand unvermittelt, fast heftig, sobald der Doktor das Haus betrat; und als sie es getan hatte – was ihre Schuldigkeit war –, schickte sie sich an, das Zimmer zu verlassen. Aber sie kam nicht schnell genug hinaus; ihr Vater hielt sie gerade noch auf, als sie schon die Tür erreicht hatte.
    »Nun, meine Liebe, hat er dir heute einen Heiratsantrag gemacht?« fragte der Doktor.
    Genau das hatte sie befürchtet von ihm zu hören; und doch stand ihr keine Antwort zur Verfügung. Natürlich hätte sie es gern als Scherz genommen – so wie es ihr Vater wohl gemeint haben mußte. Und doch wäre sie auch gern, wenn sie es verneinte, etwas bestimmt, etwas spitz gewesen, so daß er vielleicht die Frage nicht noch einmal stellen würde. Sie mochte sie nicht – sie machte sie unglücklich. Aber Catherine konnte nie spitz sein, und einen Moment stand sie nur so da, die Hand auf der Türklinke, blickte ihren ironischen Vater an und lachte leise auf.
    »Wendig«, sagte sich der Doktor, »ist meine Tochter entschieden nicht!«
    Doch kaum hatte er diese Überlegung angestellt, als Catherine etwas fand; sie hatte beschlossen, die Sache im ganzen als Scherz zu nehmen.
    »Vielleicht tut er es beim nächsten Mal«, rief sie, aufs neue lachend; und eiligst verließ sie das Zimmer.
    Der Doktor blieb erstaunt stehen; er fragte sich, ob seine Tochter das ernst gemeint habe. Catherine ging schnurstracks auf ihr Zimmer, und unterwegs war ihr etwas anderes – etwas Besseres – eingefallen, was sie hätte sagen können. Sie wünschte jetzt fast, ihr Vater |52| würde seine Frage noch einmal stellen, damit sie entgegnen könnte: »O ja, Mr. Morris Townsend hat mir einen Heiratsantrag gemacht, und ich habe ihn abgewiesen.«
    Der Doktor indes verlegte sich darauf, seine Fragen anderswo zu stellen; es war ihm natürlich in den Sinn gekommen, daß es ratsam war, gründlich Erkundigungen über diesen gutaussehenden jungen Mann einzuholen, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, in seinem Hause ein und aus zu gehen. Er wandte sich an die ältere seiner beiden Schwestern, Mrs. Almond, ging aber nicht unverzüglich zu ihr; so eilig war die Angelegenheit auch wieder nicht; doch machte er sich eine Notiz darüber für die nächste Gelegenheit. Der Doktor war niemals übereifrig, ungeduldig oder nervös, aber er machte sich über alles Notizen, und diese Notizen zog er regelmäßig zu Rate. Unter ihnen fand auch die Auskunft, die er von Mrs. Almond über Morris Townsend erhielt, ihren Platz.
    »Lavinia war bereits da, um mich zu fragen«, sagte sie. »Lavinia ist furchtbar aufgeregt; ich begreife das nicht. Schließlich ist es ja nicht Lavinia, auf die der junge Mann angeblich Absichten hat. Sie ist sehr eigenartig.«
    »Ach, meine Liebe«, erwiderte der Doktor, »sie hat diese zwölf Jahre nicht bei mir gewohnt, ohne daß ich das herausgefunden

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