Washington Square
oder drei Lieder, ohne daß er sich Hoffnung gemacht hätte, das könnte dazu beitragen, ihren Vater für sich zu gewinnen. Morris Townsend hatte einen angenehmen, hellen Tenor, und als er geendet hatte, äußerten alle Zuhörer Beifallsbekundungen – das heißt alle außer Catherine, die betont still blieb. Mrs. Penniman erklärte, diese Art zu singen sei »höchst kunstvoll«, und Dr. Sloper sagte, es sei »sehr ansprechend – in der Tat sehr ansprechend« gewesen, und er sagte das laut und deutlich, doch mit einer gewissen Trockenheit.
»Er mag mich nicht – er mag mich ganz und gar nicht«, sagte Morris Townsend, indem er sich in derselben Art an die Tante wandte wie zuvor an die Nichte. »Er hält mich für völlig unpassend.«
Im Gegensatz zu ihrer Nichte fragte Mrs. Penniman nach keiner Erklärung. Sie lächelte nur sehr gefällig, als verstünde sie alles; und gleichfalls im Gegensatz zu Catherine machte sie keinen Versuch, ihm zu widersprechen. » |62| Ich bitte Sie, was macht das schon aus?« sagte sie leise.
»Ah, Sie sagen das Richtige!« sagte Morris, sehr zur Genugtuung von Mrs. Penniman, die sich viel darauf einbildete, stets das Richtige zu sagen.
Als der Doktor das nächste Mal seine Schwester Elizabeth traf, ließ er sie wissen, daß er die Bekanntschaft von Lavinias Protegé gemacht habe.
»Körperlich«, sagte er, »ist er ungewöhnlich wohlgebildet. Für mich als Anatom ist es wahrhaftig ein Vergnügen, eine so wundervolle Körperbildung zu sehen; doch wenn alle Menschen so wären wie er, dann gäbe es wohl sehr wenig Bedarf an Ärzten.«
»Siehst du denn an den Leuten nichts anderes als ihre Knochen?« erwiderte Mrs. Almond. »Was hältst du als Vater von ihm?«
»Als Vater? Gott sei Dank, daß ich nicht sein Vater bin!«
»Nein; aber Catherines Vater. Lavinia erzählte mir, Catherine sei verliebt.«
»Sie muß darüber hinwegkommen. Er ist kein Gentleman.«
»Oh, nimm dich in acht! Denk’ daran, daß er aus einer Linie der Townsends stammt.«
»Er ist nicht das, was ich unter einem Gentleman verstehe; er hat nicht dessen Wesen. Er versteht es hervorragend, sich einzuschmeicheln; aber im Grunde seines Wesens ist er vulgär. Ich habe das in einer Minute durchschaut. Er ist alles in allem allzu zwanglos. Ich hasse Zwanglosigkeit. Er ist eindeutig ein Geck.«
»Nun denn«, sagte Mrs. Almond, »wenn du dir so schnell ein Urteil bilden kannst, ist das natürlich von Vorteil.«
|63| »Ich bilde mir mein Urteil nicht schnell. Was ich dir sage, ist das Ergebnis von dreißig Jahren Beobachtung; und um mir an einem einzigen Abend dieses Urteil bilden zu können, habe ich ein Leben lang Studien treiben müssen.«
»Es ist sehr gut möglich, daß du recht hast. Aber es kommt darauf an, daß Catherine es sieht.«
»Ich werde ihr eine Brille schenken!« sagte der Doktor.
|64| 8. KAPITEL
Wenn es zutraf, daß Catherine verliebt war, verhielt sie sich dabei äußerst zurückhaltend; aber der Doktor war natürlich bereit zuzugeben, ihre Zurückhaltung könnte Bände sprechen. Sie hatte Morris Townsend gesagt, daß sie ihn ihrem Vater gegenüber nicht erwähnen werde, und sie sah keinen Grund dafür, dieses Gelöbnis der Verschwiegenheit zurückzunehmen. Freilich war es nichts weiter als ein Gebot der Höflichkeit, daß Morris, nachdem er am Washington Square diniert hatte, wieder dort vorsprach. Er hatte freie Zeit in Hülle und Fülle zur Verfügung, und vor dreißig Jahren hatte in New York ein junger Mann mit freier Zeit Grund genug, dankbar zu sein, wenn ihm Gelegenheit zur Zerstreuung geboten wurde. Catherine sagte ihrem Vater nichts von diesen Besuchen, obgleich sie rasch zum Wichtigsten in ihrem Leben wurden und sie am meisten davon erfüllt war. Das Mädchen fühlte sich sehr glücklich. Es wußte noch nicht, was daraus werden sollte, aber die Gegenwart war auf einmal bereichert und festlich geworden. Hätte man Catherine gesagt, sie sei verliebt, so wäre sie höchst überrascht gewesen; denn sie hatte die Vorstellung, Liebe sei eine feurige und zwingende Leidenschaft, und ihr eigenes Herz war in diesen Tagen von einer Regung der Selbstverleugnung und Aufopferung erfüllt. Immer wenn Morris Townsend das Haus verlassen hatte, versetzte sich ihre Phantasie mit aller Kraft in die Vorstellung seiner baldigen Wiederkehr. Doch wenn man ihr in einem solchen |65| Moment gesagt hätte, daß er ein Jahr lang nicht wiederkommen würde oder gar überhaupt nicht mehr, so hätte sie sich nicht
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