Washington Square
meint den Herrn – den Herrn, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern konnte«, sagte Catherine.
»Der Herr von Elizabeths Gesellschaft, der von Catherine so beeindruckt war«, fügte Mrs. Penniman hinzu.
»Oh, sein Name ist also Morris Townsend? Und er ist gekommen, um dir einen Heiratsantrag zu machen?«
»Oh, Vater!« murmelte das Mädchen als Antwort und wandte sich weg zum Fenster, wo die Dämmerung in tiefe Dunkelheit übergegangen war.
»Ich hoffe, er tut das nicht ohne deine Zustimmung«, sagte Mrs. Penniman wohlwollend.
»Immerhin, meine Liebe, scheint er die deine zu haben«, antwortete ihr Bruder.
Lavinia lächelte geziert, als ob das nicht ganz hinreichend |48| wäre, und Catherine, mit der Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, hörte diesen Austausch von Epigrammen so zurückhaltend mit an, als wäre nicht jedes ein Nadelstich, der ihr Schicksal traf.
»Wenn er das nächste Mal kommt«, setzte der Doktor hinzu, »solltest du mich lieber rufen. Es könnte sein, daß er mich sprechen möchte.«
Morris Townsend kam etwa fünf Tage danach wieder, aber Dr. Sloper wurde nicht gerufen, da er um diese Zeit nicht zu Hause war. Catherine saß bei ihrer Tante, als der junge Mann gemeldet wurde, und Mrs. Penniman, die sich unbedingt zurückhalten wollte, bestand unerbittlich darauf, daß ihre Nichte allein in das Empfangszimmer gehe.
»Dieses Mal ist es für dich – für dich allein«, sagte sie. »Als er neulich mit mir sprach, war es lediglich zur Vorbereitung – es diente dazu, mein Vertrauen zu gewinnen. Wahrhaftig, meine Liebe, ich brächte heute nicht die
Courage
auf, mich sehen zu lassen.«
Und das entsprach völlig der Wahrheit. Mrs. Penniman war keine mutige Frau, und von Morris Townsend hatte sie den Eindruck eines jungen Mannes von großer Charakterstärke und bemerkenswertem satirischem Vermögen – ein kühnes, entschlossenes, blendendes Naturell, dem man mit gehörigem Fingerspitzengefühl begegnen mußte. Sie empfand ihn insgeheim als »beherrschend« und fand Gefallen an diesem Wort und ihrer Vorstellung davon. Auf ihre Nichte war sie nicht im geringsten eifersüchtig, und mit Mr. Penniman war sie völlig glücklich gewesen, aber im Grunde ihres Herzens gestattete sie sich die Feststellung: »So einen Ehemann hätte ich haben sollen!« Er war gewiß weit mehr beherrschend – zu guter Letzt nannte sie es »souverän« – als Mr. Penniman.
|49| So empfing nun Catherine Mr. Townsend allein, und ihre Tante kam nicht einmal am Ende des Besuches dazu. Es war ein langer Besuch; Morris Townsend saß, im vorderen Salon, im größten Sessel, über eine Stunde lang da. Dieses Mal schien er sich mehr zu Hause zu fühlen – zwangloser, räkelte sich ein wenig im Sessel, klopfte mit seinem Stock auf ein Kissen in seiner Nähe, besah ausgiebig das Zimmer und was es alles enthielt ebenso wie Catherine, die er indes auch unverhohlen betrachtete. In seinen hübschen Augen lag ein Lächeln ehrerbietiger Verehrung, das Catherine schier feierlich schön fand; es ließ sie an einen jungen Ritter in einer Dichtung denken. Seine Unterhaltung allerdings war nicht gerade sehr ritterlich; sie war leichthin, unbekümmert und freundschaftlich. Er gab ihr eine Wendung zum Zweckmäßigen und fragte sie allerhand zu ihrer Person – welche Vorlieben sie habe – ob sie dies und jenes möge – was ihre Gewohnheiten seien. Mit seinem betörenden Lächeln sagte er zu ihr: »Erzählen Sie mir doch von sich; geben Sie mir eine kleine Skizze.« Catherine hatte sehr wenig zu erzählen und kein Talent zum Skizzieren; doch ehe er ging, hatte sie ihm anvertraut, daß sie eine geheime Leidenschaft für das Theater habe, die aber nur unzureichend befriedigt worden war, und eine Vorliebe für Opernmusik – insbesondere die von Bellini und Donizetti (zur Entschuldigung dieser einfachen jungen Frau ist zu bedenken, daß sie diese Ansichten in einem Zeitalter allgemeiner Unwissenheit vertrat), die zu hören sie selten Gelegenheit hatte, außer von der Drehorgel gespielt. Sie gestand, daß sie für Literatur nicht besonders viel übrig habe. Morris Townsend pflichtete ihr bei, daß Bücher langweilig seien. Nur müsse man, wie er sagte, eine ganze Menge davon lesen, ehe man das herausfand. |50| Er war an Orten gewesen, über die Leute Bücher geschrieben hatten, und diese Orte waren den Beschreibungen auch nicht ein bißchen ähnlich. Mit eigenen Augen sehen – das war das beste; er versuchte stets, mit eigenen Augen zu
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