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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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junge Townsend. Und dann sah er zu seinem Vetter hinüber und begann zu lachen. »Hör’ mal, wir sprechen gerade von dir«, sagte er dann.
    Morris Townsend unterbrach seine Unterhaltung mit Mrs. Penniman und sah mit einem leichten Lächeln erstaunt auf. Dann erhob er sich, als wollte er gehen.
    »Soweit es dich betrifft, kann ich das Kompliment nicht erwidern«, sagte er zu Catherines Gesprächspartner. »Was aber Miss Sloper angeht, ist das etwas anderes.«
    Catherine fand diese kleine Bemerkung wundervoll geschliffen; aber sie kam dadurch in Verlegenheit und erhob sich ebenfalls. Morris Townsend stand da, sah sie an und lächelte. Er streckte seine Hand zum Abschied hin. Er machte sich auf den Weg, ohne ein Wort mit ihr gesprochen zu haben. Doch selbst unter diesen Umständen freute sie sich, ihn gesehen zu haben.
    »Ich werde ihr erzählen, was Sie gesagt haben – wenn Sie fort sind!« sagte Mrs. Penniman mit einem kleinen vielsagenden Lachen. Catherine wurde rot, denn sie hatte fast den Eindruck, sie würden ihr Spiel mit ihr treiben. Was in aller Welt konnte dieser wundervolle junge Mann gesagt haben? Obwohl sie errötet war, sah er sie immer noch an, allerdings sehr liebenswürdig und ehrerbietig.
    »Ich habe mich gar nicht mit Ihnen unterhalten«, sagte er, »obwohl ich deswegen gekommen bin. Aber das ist ein guter Grund, ein anderes Mal wiederzukommen, ein kleiner Vorwand – falls ich genötigt sein sollte, einen vorzubringen. Ich bin nicht bange vor dem, was Ihre Tante sagt, wenn ich gegangen bin.«
    Damit brachen die beiden jungen Männer auf; Catherine, deren Erröten noch nicht gewichen war, richtete daraufhin einen bedeutsamen und fragenden Blick auf |45| Mrs. Penniman. Sie war zu kunstvoll ersonnenen Listen nicht imstande und nahm ihre Zuflucht nicht zu einem scherzhaften Kunstgriff – sie erweckte nicht den Eindruck, als glaube sie, man habe sie verleumdet –, um zu erfahren, was sie wissen wollte.
    »Was wolltest du mir denn erzählen?« fragte sie.
    Mrs. Penniman kam auf sie zu, lächelte und nickte ein wenig, maß sie von Kopf bis Fuß mit ihren Blicken und nestelte etwas an der Schleife des Bandes an ihrem Hals. »Es ist ein großes Geheimnis, mein liebes Kind, aber er will dir den Hof machen!«
    Catherine blieb weiterhin ernst. »Hat er dir das gesagt?«
    »So genau hat er es nicht gesagt, aber er überließ es mir, das zu erraten. Im Erraten bin ich groß.«
    »Und du meinst, er will mir den Hof machen?«
    »Bestimmt nicht mir, mein Fräulein; obwohl ich sagen muß, daß er sich zu einer, die nicht mehr übertrieben jung ist, hundertmal höflicher verhält als die meisten jungen Männer. Er denkt an jemand andern.« Und Mrs. Penniman gab ihrer Nichte ein zartes Küßchen. »Du mußt sehr wohlwollend zu ihm sein.«
    Catherine machte große Augen – sie war verwirrt. »Ich verstehe dich nicht«, sagte sie. »Er kennt mich ja gar nicht.«
    »O doch; besser als du denkst. Ich habe ihm alles über dich erzählt.«
    »Oh, Tante Penniman!« murmelte Catherine, als sei das ein Vertrauensbruch gewesen. »Er ist für uns ja völlig fremd – wir kennen ihn überhaupt nicht.« In dem »wir« des armen Mädchens lag unendliche Bescheidenheit.
    Tante Penniman indes nahm keine Notiz davon; sie sprach vielmehr mit einem Anflug von Bitterkeit. »Meine |46| liebe Catherine, du weißt sehr wohl, daß du ihn bewunderst.«
    »Oh, Tante Penniman!« Catherine konnte wieder nur murmeln. Es mochte durchaus sein, daß sie ihn bewunderte – doch das schien für sie kein Gesprächsthema zu sein. Aber daß dieser strahlende Fremdling – dieser urplötzlich aufgetauchte, der kaum den Klang ihrer Stimme gehört hatte – diese Art von Interesse an ihr hatte, das die von Mrs. Penniman gebrauchte romantische Wendung zum Ausdruck brachte – das konnte nur eine Erfindung des rastlosen Gehirns von Tante Lavinia sein, von der jedermann wußte, daß sie eine Frau von üppig wuchernder Einbildungskraft war.

|47| 6. KAPITEL
    Mrs. Penniman hielt es hin und wieder sogar für ausgemacht, daß andere Leute ebensoviel Einbildungskraft wie sie hätten; als eine halbe Stunde später ihr Bruder hereinkam, sprach sie ihn daher ganz nach diesem Grundsatz an.
    »Er war eben hier, Austin; zu schade, daß du ihn versäumt hast.«
    »Wen in aller Welt habe ich denn versäumt?« fragte der Doktor.
    »Mr. Morris Townsend; er hat uns einen so reizenden Besuch abgestattet.«
    »Und wer in aller Welt ist Morris Townsend?«
    »Tante Penniman

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