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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gruen
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Heilung und vielleicht
auch kein Wiedererkennen zu. Und wenn seine Familie nicht versöhnlich gestimmt
ist, wie wird es ihm dann ergehen, wenn er ihr so hilflos ausgeliefert ist?
    »Beruhige dich, Walter.« Ich sitze auf meiner Pferdedecke in der
Ecke und verscheuche die Fliegen, die schon den ganzen Morgen meine
verschorften Wunden umschwirren und mich quälen.
    »Nein, verdammter Dreck, ich beruhige mich nicht. Ich bin ein
Artist! Ein Artist! Artisten werden bezahlt!«, brüllt Walter und schlägt sich
gegen die Brust. Er zieht einen Schuh aus und schleudert ihn gegen die Wand. Er
betrachtet ihn einen Moment lang, dann zieht er den zweiten aus und pfeffert
ihn in die Ecke, wo er auf seinem Hut landet. Als Walter mit der Faust auf die
Decke schlägt, verkriecht Queenie sich hinter den Truhen, hinten denen sonst
Camel gelegen hat.
    »Es dauert nicht mehr lange«, sage ich. »Du musst nur noch ein paar
Tage durchhalten.«
    »Ja? Wieso das?«
    »Weil Camel dann abgeholt wird« – von der Pritsche ertönt Wehklagen
– »und wir hier verschwinden.«
    »Ach ja?«, fragt Walter. »Und was zum Teufel sollen wir dann machen?
Hast du dir das schon überlegt?«
    Ich kann seinem Blick nur kurz standhalten, dann wende ich den Kopf
ab.
    »Genau. Dachte ich mir. Deshalb brauchte ich das Geld. Wir werden
als verdammte Penner enden«, sagt er.
    »Nein, werden wir nicht«, antworte ich wenig überzeugend.
    »Dann lass dir was einfallen, Jacob. Du hast uns das eingebrockt,
nicht ich. Du und deine Freundin, ihr schafft es vielleicht auf der Straße,
aber ich nicht. Für euch mag es das große Abenteuer sein …«
    »Das ist kein großes Abenteuer!«
    »… aber für mich steht das Leben auf dem Spiel. Ihr habt immerhin
die Möglichkeit, auf einen Zug zu springen und so weiterzukommen. Ich nicht.«
    Dann schweigt er. Ich betrachte seine kleingewachsene, kompakte
Gestalt.
    Er antwortet mit einem knappen, bitteren Nicken. »Ja, genau. Und wie
gesagt bin ich auch nicht gerade dafür geschaffen, auf einer Farm zu arbeiten.«
    Während ich im Küchenbau Schlange stehe, überschlagen sich meine
Gedanken. Walter hat vollkommen recht – ich habe uns das eingebrockt, und ich
muss es wieder richten. Ich habe nur keine Ahnung, wie. Keiner von uns hat ein
Zuhause, in das er zurückkehren könnte. Mal ganz zu schweigen davon, dass
Walter nicht auf Züge springen kann – eher friert die Hölle zu, als dass ich
Marlena auch nur eine Nacht in einem Landstreicherlager verbringen lasse. Ich
bin so in Gedanken, dass ich erst kurz vor dem Tisch aufsehe. Marlena ist
bereits da.
    »Hallo«, sage ich und setze mich.
    »Hallo«, entgegnet sie nach kurzem Zögern, und ich weiß sofort, dass
etwas nicht stimmt.
    »Was ist los? Was ist passiert?«
    »Nichts.«
    »Alles in Ordnung? Hat er dir was getan?«
    »Nein. Es geht mir gut«, flüstert sie und starrt auf ihren Teller.
    »Das stimmt doch nicht. Was ist los? Was hat er gemacht?«, frage
ich. Die ersten Leute sehen zu uns herüber.
    »Nichts«, zischt sie. »Sei nicht so laut.«
    Ich setze mich gerade hin und breite mit überdeutlicher Selbstbeherrschung
die Serviette über meinen Schoß. Dann nehme ich mein Besteck und schneide
vorsichtig in mein Schweinekotelett. »Marlena, bitte sprich mit mir«, sage ich
leise. Ich bemühe mich, so zu wirken, als würden wir über das Wetter reden.
Allmählich wenden sich die Leute um uns herum wieder ihrem Essen zu.
    »Ich bin überfällig«, sagt sie.
    »Wie bitte?«
    »Ich bin überfällig.«
    »Wobei?«
    Sie hebt den Kopf und läuft scharlachrot an. »Ich glaube, ich
bekomme ein Kind.«
    Als Earl mich holen kommt, bin ich nicht einmal überrascht. Das
passt wunderbar zu diesem Tag.
    Onkel Al sitzt mit verkniffener, missmutiger Miene auf seinem Stuhl.
Heute gibt es keinen Brandy. Er kaut auf einer Zigarre herum und rammt seinen
Stock mehrmals in den Teppich.
    »Das dauert jetzt schon fast drei Wochen, Jacob.«
    »Ich weiß«, sage ich. Meine Stimme zittert. Ich habe Marlenas
Neuigkeiten noch nicht verkraftet.
    »Du enttäuschst mich. Ich dachte, wir hatten eine Vereinbarung.«
    »Die hatten wir. Haben wir noch.« Ich rutsche unruhig hin und her. »Hören
Sie, ich tue mein Bestes, aber August macht es uns nicht gerade leicht. Sie
wäre schon längst zu ihm zurückgekehrt, wenn er sie einfach mal eine Weile in
Ruhe gelassen hätte.«
    »Ich habe getan, was ich konnte«, sagt Onkel Al. Er nimmt die
Zigarre aus dem Mund und betrachtet sie, dann pflückt er sich einen

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