Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
»Nein, wirklich, mir
geht’s …«
Eine Pfeife ertönt, und sie sieht zur Tür. Ich nutze die
Gelegenheit, um den Arm wegzuziehen und aufzustehen.
»Zwa-a-a-a-a-a-a-anzig Minuten!«, brüllt jemand mit sonorer Stimme
in der Nähe der Lok. »Zwa-a-a-a-a-a-a-anzig Minuten bis zur Abfahrt!«
Joe streckt den Kopf durch die offene Tür. »Beeil dich! Wir müssen
die Tiere einladen! Oh, Entschuldigung, Ma’am«, sagt er und tippt gegen seine
Mütze. »Ich hab Sie gar nicht gesehen.«
»Schon in Ordnung, Joe.«
Joe wartet verlegen an der Tür. »Es ist nur, wir müssen jetzt
anfangen«, sagt er verzweifelt.
»Macht nur«, sagt Marlena. »Ich fahre diese Etappe bei Silver Star
mit.«
»Das geht nicht«, entfährt es mir.
Sie sieht zu mir hoch, ihre Kehle ist langgestreckt und blass. »Und
warum nicht?«
»Wenn wir die Pferde eingeladen haben, sitzen Sie da hinten fest.«
»Das macht nichts.«
»Und wenn etwas passiert?«
»Es passiert schon nichts. Und wenn doch, klettere ich einfach über
die Pferde.« Sie setzt sich wieder im Stroh zurecht und schlägt die Beine
unter.
»Ich weiß nicht«, sage ich zweifelnd. Doch der Blick, mit dem
Marlena Silver Star ansieht, lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht
vom Fleck rühren wird.
Ich sehe erneut zu Joe, der frustriert und gottergeben die Hände
hebt.
Nach einem letzten Blick auf Marlena klappe ich die Trennwand zu und
helfe dabei, die anderen Pferde einzuladen.
Diamond Joe behält recht damit, dass vor uns eine lange Etappe
liegt. Erst am späten Abend halten wir wieder an.
Kinko und ich haben seit Saratoga Springs kein Wort miteinander
gesprochen. Offensichtlich hasst er mich. Ich kann es ihm nicht einmal
verdenken – August hat das geschickt eingefädelt, aber es hat wohl keinen
Zweck, das Kinko zu erklären.
Ich bleibe vorne bei den Pferden, um ihm etwas Privatsphäre zu
gönnen. Außerdem macht mich der Gedanke nervös, dass Marlena hinter einer Reihe
von fünfhundert Kilo schweren Tieren feststeckt.
Als der Zug anhält, klettert sie leichtfüßig über die Pferde und
springt zu Boden. Kinko kommt aus dem Ziegenverschlag und reißt kurz
erschrocken die Augen auf. Dann blickt er mit gespielter Gleichgültigkeit von
Marlena zur offenen Tür.
Pete, Otis und ich laden die Dressurpferde, Kamele und Lamas ab und
tränken sie. Diamond Joe, Clive und ein paar Tierkutscher gehen vor zum zweiten
Zugabschnitt, um die Käfigtiere zu versorgen. August ist nirgends zu sehen.
Nachdem wir die Tiere in den Zug zurückgebracht haben, steige ich in
den Pferdewagen und werfe einen Blick in den Verschlag.
Kinko hockt im Schneidersitz auf dem Bett. Queenie schnuppert an
einer zusammengerollten Schlafmatte, welche die verwanzte Pferdedecke ersetzt
hat. Darauf liegen eine ordentlich gefaltete, rotkarierte Decke und ein Kissen
mit glattem, weißem Bezug. Mittig auf dem Kissen ruht ein viereckiges Stück
Karton. Als ich mich bücke, um es aufzuheben, springt Queenie weg, als hätte
ich sie getreten.
Mr. und Mrs. August Rosenbluth erbitten umgehend
Ihre Anwesenheit in Privatabteil 3, Wagen 48, zum Cocktailempfang mit
anschließendem Abendessen.
Überrascht sehe ich auf. Kinko durchbohrt mich mit seinen
Blicken.
»Du hast keine Zeit verloren, dich einzuschleimen, was?«, sagt er.
Sieben
Die Wagen sind nicht durchgehend nummeriert, und ich
brauche eine Weile, bis ich Nummer 48 finde. Auf einem satten Burgunderrot
posaunen dreißig Zentimeter große Goldbuchstaben heraus: BENZINIS SPEKTAKULÄRSTE SHOW DER WELT . Direkt unter dem
glänzenden neuen Lack sind die Umrisse eines anderen Namens erkennbar: ZIRKUS CHRISTY .
»Jacob!« Marlenas Stimme dringt durch ein Fenster. Kurz darauf
erscheint sie auf dem Podest am Ende des Waggons, sie hält sich am Geländer
fest und schwingt mit wirbelndem Rock herum. »Jacob! Ach, ich freue mich so,
dass du kommen konntest. Bitte, komm rein!«
»Danke«, entgegne ich, sehe mich verstohlen um, steige hinauf und
folge ihr durch den Gang bis zur zweiten Tür.
Privatabteil 3 ist ebenso prächtig wie falsch benannt – es macht die
Hälfte des Wagens aus und umfasst mindestens ein weiteres Zimmer, das durch
einen dicken Samtvorhang abgetrennt wird. Der große Raum hat eine
Walnusstäfelung und ist mit damastbezogenen Möbeln, einer Essnische und einer
Pullman-Küche ausgestattet.
»Mach es dir bequem«, fordert Marlena mich auf und deutet auf einen
Stuhl. »August wird jeden Moment hier sein.«
»Danke.«
Sie nimmt mir
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