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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gruen
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die zerrissenen Spitzen. »Und dabei sind sie aus Seide!«
Ihre Stimme klingt hoch und gekünstelt.
    »Marlena?«, frage ich sanft. »Geht es dir gut?«
    Stöhnend presst sie sich eine Faust vor den Mund. Ich greife nach
ihrem Arm, aber sie dreht sich weg. Statt mit dem Gesicht zur Wand stehen zu
bleiben, dreht sie sich weiter, wie ein Derwisch. Nach der dritten Umdrehung
packe ich sie bei den Schultern und presse meine Lippen auf ihre Lippen. Sie
erstarrt und ringt nach Atem, dabei saugt sie Luft zwischen meinen Lippen
hindurch. Und im nächsten Moment gibt sie nach. Sie berührt mit den
Fingerspitzen mein Gesicht. Dann reißt sie sich los, macht ein paar Schritte
zurück und starrt mich entsetzt an.
    »Jacob«, sagt sie mit brüchiger Stimme. »Oh, Gott, Jacob.«
    »Marlena.« Ich mache einen Schritt auf sie zu, bleibe dann aber
stehen. »Es tut mir so leid. Ich bin zu weit gegangen.«
    Sie hält sich eine Hand vor den Mund und starrt mich an. Ihre Augen
sind dunkle Abgründe. Dann lehnt sie sich an die Wand, zieht die Schuhe an und
blickt zu Boden.
    »Marlena, bitte.« Hilflos strecke ich die Arme aus.
    Sie richtet ihren zweiten Schuh, dann stürzt sie taumelnd davon.
    »Marlena!« Ich laufe ihr ein paar Schritte nach.
    Sie geht schneller und hält eine Hand neben ihr Gesicht, um sich vor
meinem Blick zu schützen.
    Ich bleibe stehen.
    Sie läuft mit klappernden Absätzen die Gasse entlang.
    »Marlena! Bitte!«
    Ich sehe ihr nach, bis sie um die Ecke biegt. Sie hält sich immer
noch die Hand neben das Gesicht, wohl für den Fall, dass ich noch da bin.
    Für den Weg zurück zum Zirkus brauche ich mehrere Stunden.
    Ich sehe Hauseingänge, aus denen Beine ragen, und Schilder, die
Essensausgaben ankündigen. Ich sehe Fenster, in denen Schilder mit der
Aufschrift GESCHLOSSEN hängen, und bestimmt nicht
nur für die Nacht. Ich sehe Schilder mit der Aufschrift WIR
STELLEN NIEMANDEN EIN und Schilder im zweiten Stock, auf denen VORBEREITUNG FÜR DEN KLASSENKAMPF steht. Im Fenster
einer Metzgerei sehe ich ein weiteres Schild:
    SIE HABEN KEIN GELD?
    HABEN SIE ETWAS ANDERES?
    WIR NEHMEN ALLES!
    Ich sehe einen Zeitungskasten, und die Schlagzeile lautet:
    PRETTY BOY FLOYD SCHLÄGT WIEDER ZU:
    FLIEHT MIT $ 4000 BEUTE, MENGE JUBELT .
    Gut einen Kilometer vom Zirkusplatz entfernt komme ich an einem
Lager von Landstreichern vorbei. Das Feuer in der Mitte ist von Menschen
umringt. Einige sind wach, sie sitzen auf dem Boden und starren ins Feuer.
Andere haben sich auf zusammengefaltete Kleidungsstücke gelegt. Ich bin nah genug,
um an ihren Gesichtern zu erkennen, dass die meisten jung sind – jünger als
ich. Auch einige junge Frauen sind dabei, und ein Paar ist gerade zugange. Sie
sind nicht einmal in die Büsche gegangen, liegen nur ein Stückchen weiter vom Feuer
entfernt als die anderen. Ein oder zwei Jungen sehen desinteressiert zu. Wer
bereits schläft, hat sich die Schuhe ausgezogen, sie aber an seine Knöchel
gebunden.
    Am Feuer sitzt ein älterer Mann, das Kinn voller Bartstoppeln oder
Krätze oder auch beidem. Seinen eingefallenen Wangen nach besitzt er keine
Zähne mehr. Unsere Blicke treffen sich, und wir sehen einander lange an. Ich
frage mich, warum so viel Feindseligkeit in seinem Blick liegt, bis mir
einfällt, dass ich einen Abendanzug trage. Er kann nicht wissen, dass uns sonst
kaum etwas unterscheidet. Ich unterdrücke den unsinnigen Wunsch, ihm das zu
erklären, und gehe weiter.
    Endlich auf dem Platz angekommen, bleibe ich stehen und betrachte
das Zelt. Es erhebt sich riesig vor dem Nachthimmel. Wenig später finde ich
mich vor der Elefantenkuh wieder. Ich kann nur ihre Umrisse erkennen, und auch
das erst, nachdem sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben. Sie
schläft, ihr enormer Körper ist bis auf ihr langsames, ruhiges Atmen reglos. Ich
möchte sie berühren, meine Hände auf ihre raue, warme Haut legen, aber ich
bringe es nicht übers Herz, sie zu wecken.
    Bobo liegt in einer Käfigecke, einen Arm über den Kopf gestreckt,
den anderen quer über der Brust. Er seufzt tief, schmatzt und dreht sich auf
die Seite. Genau wie ein Mensch.
    Schließlich kehre ich zum Pferdewagen zurück und lege mich auf meine
Matte. Queenie und Walter verschlafen meine Ankunft.
    Ich liege bis zum Morgengrauen wach, höre Queenie beim Schnarchen
zu und fühle mich elend und unglücklich. Vor kaum einem Monat stand ich kurz
vor dem Abschluss an einer Eliteuniversität und einer Laufbahn an der Seite
meines Vaters.

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