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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Lotte tat.
    Fast hätte er tatsächlich Mitleid gekriegt. Aber in diesem Moment nahm Hannes Mohrmann den Hörer ab.
     
    »Eigentlich habe ich Urlaub. Und den auch bitter nötig.« Dr. Bernhardi stand an der Hotel-Rezeption und sah Elisabeth Klar an. »Erst ein Toter. Und dann, mitten in der Nacht, ein schwer Kranker.« Sie lachte auf. »Beziehungsweise ein schwer Betrunkener.«
    »Wollen Sie uns etwa verlassen, Frau Dr. Bernhardi?« Sebastian Klar war neben seine Frau getreten.
    »Ganz und gar nicht. Ich habe nur eben Ihrer Frau von einem Patienten auf Zimmer 11 erzählt. Ich hoffe, das war für die nächsten drei Tage der letzte.«
    »Maximilian von der Lotte.« Elisabeth sah ihren Mann von der Seite an. Klar atmete tief durch. Auch das noch. Der Mann hatte schon bei seinem letzten Besuch die Folgen seines hemmungslosen Alkoholkonsums auf die Qualität von Keller und Küche schieben wollen. Er mäkelte seit Jahren am Michelin-Stern für die »Traube« herum. Was er jetzt wieder erzählen würde – auch noch nach dem Tode Alains: nicht auszudenken.
    Sebastian fühlte, wie ihm flau wurde. Und sah plötzlich, wie blaß Elisabeth war. »Sieh zu, daß er alles kriegt, was er braucht.« Er drückte ihren Arm. »Hoffentlich reist er bald ab.«

4
    Der alte Mann schüttelte den Kopf mit dem dichten, dunklen Haar. Frieder Wallenstein guckte an Paul vorbei zum Fenster, durch das sich die Sonnenstrahlen in das Zimmer stürzten, den Staub zum Tanzen brachten und dem ausgebleichten, aber noch immer sanft rostroten Läufer auf dem Holzfußboden noch ein paar Farbpartikelchen mehr raubten.
    »Warum Alain?« murmelte er.
    Bremer glättete mit zwei Fingern die Troddeln am Fähnchen aus gelbem Samt, das an der Wand neben der Tür hing. »Wieso nicht? Auch Leute in Chevailliers Alter bekommen, wenn sie Pech haben, einen Herzinfarkt!«
    Wallenstein schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht.«
    »Das hat Panitz gestern auch dauernd gesagt.« Er hatte die kleine Fahne der Mercuria – »Verein für kath. Kaufleute u. Beamte, gegr. 1891 in Wingarten am Rhein« – immer geliebt. Und noch heute rührten ihn die eingestickten Worte, deren ersten drei ihm als Kind Rätsel aufgegeben hatten: »Mercuria sei’s Panier. Ehrlich im Handel, christlich im Wandel.«
    »Wenn es Panitz gewesen wäre …«
    Er drehte sich zu seinem Großonkel um. »Warum denn Panitz, um Himmels willen?«
    Wallenstein seufzte tief auf. »Wahrscheinlich sehe ich Gespenster. Aber irgend etwas stimmt nicht in unserem Dorf. Wir leben im Streit miteinander. Wir sind uns fremd geworden. Wir trauen einander alles erdenklich Schlechte zu. Es geht uns nicht gut miteinander hierin Wingarten.«
    »Ist das was Neues?«
    »Ach Paul.« Wallenstein stützte sich mit den knochigen Händen auf die Armlehne seines Rollstuhls und brachte seine Oberschenkel in eine bequemere Position. »Du hast dich hier immer fremd gefühlt, oder?«
    Paul stand vor der Vitrine aus Birnenholz und zählte die Pokale, die Wallensteins Gesangsverein in seiner aktiven Zeit gesammelt hatte und die dringend mal wieder poliert werden mußten. Er hatte das alte Sängerheim noch gekannt. Heute stand dort ein Penny-Markt.
    »Ich war halt ein Zugereister. Ein Reingeschneiter.« Er merkte, wie ihn das Selbstmitleid anfiel. »Reden wir nicht drüber.«
    Rechts von der Vitrine hing noch immer das Bild, eine Fotografie, deren schwarzweiße Konturen fest in seinem Gedächtnis eingeprägt waren. Er mußte es sich unglaublich oft angesehen haben, damals, immer, wenn ihm niemand zusah dabei: das Bild, das einen jungen Frieder Wallenstein zeigte, einen gutaussehenden, schnauzbärtigen Mann in Lederblouson und schweren Stiefeln, eine Kappe auf dem Kopf mit den großen, etwas abstehenden Ohren. Hinter ihm, deutlich erkennbar, die Treppenstufen des Niederwalddenkmals – nur die Treppenstufen, nicht die gigantische Germania, die von dort oben herab mit Schwert und Krone noch heute den Erzfeind jenseits des Rheins grüßt. Links von Frieder Wallenstein, etwas im Hintergrund, sah man andere Männer stehen, erheblich zackiger gekleidet. Junge Männer in Wehrmachtsuniform.
    Wallenstein hatte ihm vor Jahren angeboten, ihm eine Reproduktion des Fotos machen zu lassen. Aber er wollte keine Kopie. Er wollte noch nicht einmal das Original. Es war ein Bild, das er auch so nie vergessen würde.
    Auf dem Foto hatte Wallenstein den Arm schützend um ein Mädchen gelegt, ein Mädchen in kariertem Kleid, mit weißem

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