Wasser zu Wein
Kragen und einer weißen Schürze. Schlank, nicht sehr groß, mit einer Spange im brav gescheitelten Haar. Und mit einem Gesichtsausdruck, der Bremer jahrelang beschäftigt hatte – der, hatte er als Junge fest geglaubt, ein Geheimnis verbarg. Ein Geheimnis? Heute würde er es eine Mischung aus Trotz, Stolz und Schüchternheit nennen, was sich auf dem Gesicht des jungen Mädchens abzeichnete.
Wallenstein hatte seinen Rollstuhl ein wenig nach links gedreht und sah ihm zu – »das war 1943«, sagte er. »Was ist das alles lange her!«
Lange vor meiner Geburt, dachte Paul. Sie war noch nicht verheiratet gewesen, als das Foto gemacht wurde. Erstaunt registrierte er plötzlich, wie besitzergreifend Wallenstein in die Kamera guckte – das war ihm früher nie aufgefallen. Hatte er für sie geschwärmt? »Warum hast du sie eigentlich nicht geheiratet?«
Wallenstein lachte – ein verlegenes Lachen. »Ich war dreiundzwanzig. Und sie war fünfzehn.«
»Na und?« Er erwärmte sich für die Vorstellung.
»Ich war ihr Onkel!«
»Ihr Stiefonkel! Du bist der Bruder der zweiten Frau ihres Vaters!«
»Gudrun hat einen anderen geheiratet. Und sie hat ihn geliebt. Vergiß das nicht.«
Bremer drehte sich zum Fenster. Seinen Vater geliebt? Den Mann, der seinen und ihren einzigen Sohn nach ihrem Tod kurzerhand wie ein lästiges Gepäckstück abgestellt hatte?
»Es gibt Dinge, die sind unverzeihlich. Ich versteh dich ja, Paul.« Wallenstein klang müde. »Aber vielleicht müssen wir manches vergessen. Verzeihen. Vergeben. Auch uns selbst. Sonst wird das Leben unerträglich.«
Paul war mit ein paar Schritten am Fenster und ließ sich in den alten Sessel neben Wallenstein fallen. Plötzlich fühlte er sich wieder wie der kleine Junge, der an feuchten Herbsttagen seinem Großonkel auf den Schoß kroch, um getröstet zu werden. Das hätte er auch jetzt am liebsten gemacht.
»Von Sibylle habe ich dir erzählt, oder? Von unserer Trennung?«
Wallenstein hatte nie geheiratet. Er wußte wahrscheinlich weder über den Zustand vorher noch über den Zustand nachher irgend etwas zu sagen.
»Und von der Nacht, als unser Kind starb?«
Wallenstein nickte.
»Ich war nicht da – ich hatte Wichtigeres zu tun.« Er merkte, wie sich der alte Schmerz in seinem Inneren wieder zu voller Größe erhob und mit den schwarzen Flügeln schlug. »Ich war nicht da, als meine Tochter starb und meine Frau fast gestorben wäre. Ich war nicht da, als man mich brauchte.«
Wallenstein nickte wieder.
»Wie mein Vater«, sagte Paul.
Der alte Mann war blaß geworden. »Es stimmt«, sagte er leise. »Dein Vater war nicht da, als deine Mutter starb. Niemand war da, als Gudrun mit dem Tod kämpfte …«
Paul blickte aus dem Fenster. Er war so mit sich selbst beschäftigt, daß ihm nur flüchtig auffiel, wie bewegt der alte Herr plötzlich schien. »Und jetzt bin ich hier – und wieder nicht da, wo man mich braucht.« Bist du dir da so sicher? schoß es ihm durch den Kopf. Und warum bist du so wehleidig?
Wallenstein sagte nichts. Paul stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte das Kinn auf seine Fäuste. Als das Schweigen unbehaglich zu werden drohte, begann er zu erzählen. Nicht von der Vergangenheit, sondern von Klein-Roda, seinem heldenhaften Dorf im Widerstand gegen den Rinderwahn.
Und während er erzählte, hob sich seine Laune – erleichtert spürte er die Wut wiederkehren. In diesem Fall nämlich gab es nicht den Anflug eines Zweifels darüber, wo die Schuld lag: bei all den kurzsichtigen Egoisten, die, ohne Rücksicht auf andere, die schnelle Mark machen wollten.
Wallenstein hatte in den letzten Minuten mehrfach seine Sitzposition verlagert. »Geht es darum nicht immer?« fragte er. Bremer sah auf. Irgendwann war der Spott in Wallensteins Gesicht zurückgekehrt.
»Das ist doch der Motor der Weltgeschichte: Einige skrupellose Vertreter wollen sich bereichern, das Risiko trägt die Gemeinschaft. Das ist im übrigen beim Wein nicht anders.«
»Aber …«
»Gift und Wein – das hat schon immer zusammengehört. Wir haben hier alle seit Jahrhunderten unsere Böden vergiftet und unsere Weine gepanscht.«
»Du auch?«
»Natürlich!« Wallenstein zog die linke Augenbraue hoch. »Hast du etwas anderes erwartet? Wenigstens habe ich mich nicht an meinem eigenen Wein vergiftet. Wie ein Freund meines Vaters, der aus lauter Geiz auch sich selbst immer nur seinen Haustrunk ausgeschenkt hat.«
»Bubbes«, sagte Paul. Bubbes war Abfallverwertung: Der
Weitere Kostenlose Bücher