Wasser zu Wein
Schulhof, als er ihnen allen unterlegen gewesen war. Lotte rang nach Luft und spürte plötzlich, wie seine Brust enger wurde, immer enger. In heller Panik griff er zum Telefon. »Hilfe«, krächzte er in das Gerät, als der Nachtportier sich meldete. »Einen Arzt, schnell!«
Als er wieder aufgelegt hatte, überfiel ihn süße, köstliche Müdigkeit. Er krümmte sich wie ein Fötus im Bett zusammen und spürte den unwiderstehlichen Wunsch, den Daumen in den Mund zu stecken. Einmal wieder ganz klein und hilflos sein …
Der Feldwebel, der zehn Minuten später in sein Zimmer gestürmt kam, zerstörte den Traum von kindlicher Geborgenheit. Der Nachtportier hatte Dr. Bernhardi angerufen, die Frau, die Chevailliers Exitus festgestellt hatte. Sie sprach viel zu laut, ging viel zu resolut und war auch noch sofort zum Fenster geschritten, um es weit aufzureißen.
»Wo ist der Doktor?« fragte von der Lotte mit leidender Stimme, nur, um sie zu kränken.
»Hier«, hatte sie kurz geantwortet, sich neben ihn aufs Bett gesetzt und nach seinem Puls gefühlt. »Sie sind zwar im richtigen Alter – und Sie trinken entschieden zuviel –, aber nach einem Kandidaten für Herzinfarkt wie der arme Kollege heute abend sehen Sie nicht aus.«
Er mochte sich nicht eingestehen, daß ihn diese Mitteilung erleichterte. Denn alles in ihm sehnte sich danach, ein bemitleidenswerter Fall zu sein. »Der Magen! Die Übelkeit!« sagte er, immer noch heiser.
»Lebensmittelvergiftung?« Sie hatte drei scharfe Falten über der Nasenwurzel, als sie ihn streng musterte. »Ihre Pupillen sind völlig in Ordnung, weder zu groß noch zu klein.« Dann kniff sie ihn in den Arm. »Ihre Haut ist etwas klamm, hat aber eine normale Farbe.« Sie musterte ihn wieder. »Haben Sie Schluckstörungen? Muskelschmerzen?« Von der Lotte schüttelte den Kopf.
»War Blut im Erbrochenen?«
»Nein«, sagte von der Lotte mit Ekel in der Stimme.
»Sie haben sich den Magen verdorben«, sagte Dr. Bernhardi. »Lassen Sie sich einen Kamillentee bringen. Oder Coca-Cola und Salzstangen«, fügte sie mit hörbarem Spott hinzu.
Dann stand sie auf und zog die Tür geräuschvoll hinter sich zu. Von der Lotte schüttelte sich und richtete sich vorsichtig auf. Es gab kein Mitleid mehr auf dieser Welt. Dabei war ihm immer noch kreuzübel, und an Schlaf war nicht zu denken. Er zog sich die Bettdecke bis unters Kinn und war in Sekundenschnelle weggedämmert. Und wieder brannte die Leselampe. Sie brannte bis Sonntag früh, neun Uhr.
Nach der ersten Tasse Kamillentee, die er im Bett sitzend eingenommen hatte, wußte Maximilian von der Lotte, daß er etwas tun mußte. Er durfte nicht zulassen, daß es anderen Gästen ähnlich erging wie ihm – und dem armen Chevaillier. Er mußte warnen – vor der »Traube« und ihren zweifelhaften Genüssen. Vor den Klars und ihren falschen Freunden. Den wirklichen Freunden des Genusses würde daran gelegen sein, daß die Wahrheit an den Tag kam.
Er tippte die Nummer von Hannes Mohrmann in die Telefontastatur. Der Journalist vom überregionalen Blatt war ihm dankbar für jeden Wink – und ein durchaus kritischer Beobachter der »Traube«, nicht nur, weil Klar ihn einmal der Bar verwiesen hatte. Lotte sah die Schlagzeilen vor sich: Ein Weinkritiker stirbt unter mysteriösen Umständen. Der Schriftsteller Maximilian von der Lotte schwebt nach einem Galadiner zwischen Leben und Tod. Die renommierte »Traube« ist offenbar nicht so renommiert, wie alle glauben.
Gut, daß es investigativen Journalismus gab.
Während er darauf wartete, daß Mohrmann ans Telefon ging, nahm er noch einen Schluck lauwarmen Kamillentee. Wehmütig fiel ihm der Honigtee ein, den seine Mutter ihm bereitet hatte, wenn er sich als kleiner Junge den Magen verdorben hatte. »Aber heiß muß der getrunken werden«, hatte sie dazu gesagt und sich dann an sein Bett gesetzt und ihm Märchen vorgelesen. Vom Knusperhäuschen und vom Hirsebrei.
Plötzlich wurde ihm ganz milde beim Gedanken an Panitz. Wenn Panitz erst Zeit gehabt hätte, um seinen Fehler einzusehen, würde Lotte ihm die verzeihende Hand hinstrecken. Auch große Gastrokritiker vertun sich mal! Und man weiß ja: wenn Freundschaft im Spiel ist … Aber vergibt man einen Michelin-Stern aus lauter Freundschaft? Natürlich nicht. Kritiker müssen unbestechlich sein.
Aber das würde Panitz bis dahin gründlich begriffen haben. Das beschädigte Renommee der »Traube« würde auch ihn beschädigen. So leid es Maximilian von der
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