Wasser zu Wein
Trester, die Rückstände nach dem Keltern, wurde mit Wasser eingeweicht, geschwefelt, mit Zucker versetzt und vergoren. Das Gebräu war vor allem für das Lesepersonal gedacht. Fürs Volk. Paul hatte, dank Wallensteins Weinerziehung, das Zeugs schon damals verweigert.
»So was zu trinken, kann noch heute gesundheitsschädlich sein. Aber vor dem Zweiten Weltkrieg war es lebensgefährlich. Damals hat man Pflanzenschutz mit Arsen betrieben. Das Gift sammelte sich im Trester. Der Mann hat sich mit Arsen vergiftet – daran stirbt man langsam, aber sicher.« Der alte Winzer schüttelte den Kopf.
»Von wegen gute alte Zeiten. Im 17. Jahrhundert hat man die Weine mit Bleioxid gesüßt und ›verbessert‹. ›Wasser des Saturn‹ nannte man den Stoff, mit dem sich die feinen Damen auch die Haut bleichten. Die englische Königin Anne hat ihre siebzehn Kinder wahrscheinlich alle aufgrund von Bleivergiftung im Mutterleib verloren.«
Durch das geöffnete Fenster wehten kühle Frühlingsluft und das Husten eines Hubschraubers herein.
»Mein Gott, was haben die Winzer früher alles gespritzt«, sagte Wallenstein. »›Bordeaux-Brühe‹ nannte sich das Mittel gegen falschen Mehltau – eine Mischung aus Kupfersulfat, Kalk und Wasser. Und immer reichlich davon. Seit vom Hubschrauber aus gespritzt wird, hat man wenigstens Menge und Art des Mittels unter Kontrolle.«
Wallenstein lachte, als er Pauls Gesicht sah. »Na klar muß gespritzt werden. Gegen Mehltau und gegen den roten Brenner, gegen Heuwurm oder Sauerwurm. Wein ohne Chemie ist nicht denkbar. Auch heute nicht. Nach der Lese geht’s gleich weiter: mit Schwefel, gegen Schädlinge, und Schwefeldioxid, gegen Bakterien.«
»Früher …«, sagte Paul.
»Früher ist es nicht besser gewesen. Früher galt das Motto: Viel hilft viel. Und keiner wußte, was das für Folgen haben konnte.« Der alte Mann seufzte auf. »Wir wissen noch immer viel zu wenig über die Folgen.«
Paul lehnte sich im Sessel zurück und versuchte, durchs Fenster den Flug des Hubschraubers zu verfolgen.
»Gift und Wein …«, sagte Wallenstein nach einer Weile. »Wasser und Wein. Zucker und Wein. Glykol und Wein. Wingarten ist eine Stadt, in der seit Jahrhunderten Wein angebaut und gehandelt wird. Und in der wahrscheinlich immer Wein vergiftet, gestreckt, gepanscht und gefälscht wurde. Das bestimmt unser Leben. Das hält uns zusammen.«
Wie in Klein-Roda. Ernüchtert sah Paul, daß sich auch unter dem äußeren Frieden seines Dorfes ein undurchdringliches Geflecht ausbreitete, das sich aus den Sündenregistern aller einzelnen zusammensetzte. Jeder wußte etwas Nachteiliges über den anderen. Das schweißte zusammen. Weshalb niemand in Klein-Roda etwas anfangen konnte mit all jenen, die sich moralisch geben und die saubere Welt fordern. Die Gemeinschaft der kleinen Sünder hält wie Pech und Schwefel. Und davon profitieren auch die großen Sünder.
»Weinpanscherei hat es schon immer gegeben, überall. Zum Trost für uns hier: Im Bordeaux ist gerade ein Spitzenweingut aufgeflogen, das seine Weine mit billigem Wein vom Nachbarn verschnitten hat. Außerdem hat man dort Stücke von alten Eichenholzfässern in die Stahltanks gegeben – das bringt auch Tannine und ist billiger. Sparsame Leute eben.« Wallenstein kicherte.
Paul nickte geistesabwesend.
»Oder kürzlich im Burgund. Einige der Winzer dort haben ihre Weine sowohl gezuckert als gesäuert – nur eines von beiden ist in Frankreich erlaubt.«
Paul hatte das Geräusch schon seit einer ganzen Weile gehört. Jetzt kam es langsam näher, immer näher, bis er es endlich identifiziert hatte: Im Flur saugte jemand energisch Staub. Und ein Geruch war durch die Türritzen gedrungen, Essensgeruch – nach Sauerkraut und Frikadellen. Er hatte mit einem Mal Hunger.
»Dein alter Freund Panitz weiß genau, was er tut, wenn er alte Wunden aufreißt. Die Leichen aus den Kellern holt. Die Leichen«, sagte Wallenstein und klopfte mit der flachen Hand auf die Armlehne seines Rollstuhls. »Corves Senior hat sich erschossen. Nachdem er seinen Wein jahrelang mit Flüssigzucker ›verbessert‹ hatte. Sein Kellermeister ist bei einem Autounfall kurze Zeit später ums Leben gekommen. Schepps Mutter hat Schlaftabletten genommen. Aus Scham, sagt man. Weil sie mit der Schande nicht habe leben wollen, daß ihr Sohn in den Glykolskandal verwickelt war. Und die Brüder Bessenauer –«
»Nie von gehört.«
»Falsche Etiketten. Importschwindel. Beide haben ihre Strafe
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