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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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verlängerten Rückgrat auf die massive Steinplatte des Tisches unter dem Balkon, rutschte hinunter, kippte nach vorn und schlug mit der Stirn auf die eiserne Reling, die das Podest, auf dem der große Tisch stand, vom Rest der Terrasse trennte. Zwei der Touristinnen, die unten standen und den Blick auf den Rhein genossen hatten, drehten sich beim Geräusch, das er dabei machte, um und schrien laut auf. Lotte kniete, wie ins Gebet versunken, vor der eisernen Reling, den Kopf in unnatürlichem Winkel zur Seite gedreht, die Augen weit offen.
    Das morsche Balkongitter oben war in vier Teile zerbrochen, die Reling unten hatte dem Aufprall standgehalten. Nicht einmal eine Delle hinterließ von der Lottes Schädel auf ihr, nicht einmal eine Ecke des großen steinernen Tischs war durch den Aufprall abgesprungen.
    Maximilian von der Lotte starb leise, unauffällig und ohne einen größeren Schaden zu hinterlassen. Höflich bis zum letzten Atemzug. Ein Gentleman.
    Teil III
    Methusalem
     

1
    Wingarten am Rhein
     
    »Wenn du es nicht schaffst, beim Telefonieren vernünftig Auto zu fahren, dann solltest du eins von beidem lassen!« sagte Kosinski, als Michael wieder in die rechte Spur eingeschwenkt war, gerade noch rechtzeitig vor dem entgegenkommenden Auto, dessen Fahrer wütend auf die Hupe drückte und sie hektisch anblinkte. Der ältere Herr im Toyota, den sie überholt hatten, war darauf erst aufmerksam geworden, als sie schon auf halber Höhe waren. Der Mann war verschreckt auf die Bremse getreten. »Außerdem sollte man, wenn man in einem Polizeiwagen sitzt –«
    »– stets Vorbild sein.« Michael verzog den Mund. Sie fuhren einen dunkelgrauen Audi. Niemand würde das für ein Bullenfahrzeug halten.
    »Und vielleicht auch mal an den sensiblen Beifahrer denken!« Kriminalhauptkommissar Kosinski beharrte auf korrektem Verhalten. Unter allen Umständen.
    Michael nahm den Fuß vom Gas, um an der Kreuzung rechts abzubiegen. Er hatte sich, was das Autofahren betraf, noch nie etwas sagen lassen. »Willst du vielleicht fahren?« fragte er scheinheilig. »Oder soll ich dir demnächst das Telefonieren überlassen?«
    »Nein danke. Zu irgend etwas müssen die unteren Ränge ja gut sein.« Der Kerl wußte genau, wie ungern er telefonierte. Und im übrigen war Kosinski heilfroh, daß er auch nicht mehr hinters Steuer mußte.
    Kriminalkommissar Michael Wagner leckte sich die aufgesprungene Unterlippe, an der sich links, dort, wo ihn sein Sparringpartner beim Boxen vorgestern erwischt hatte, dicker, rostbrauner Schorf gebildet hatte. Kosinski sah ihn von der Seite an und schüttelte den Kopf. Die aufgeplatzte Lippe, der Bürstenhaarschnitt, die gepolsterte dunkelgrüne Lederjacke … »Du siehst aus wie ein Bulle.« Wie einer aus dem Fernsehen, jedenfalls.
    Michael grinste. »Na einer muß ja …«
    »… wie ein Bulle aussehen, schon recht.« Kosinski wippte mit der Filterzigarette, die, kalt und feucht, in seinem linken Mundwinkel hing – als Zeichen seines stummen Protestes gegen das Gesundheitsdiktat, dessen fanatischer Verfechter neben ihm saß. Seit er mit Michael zusammenarbeitete, waren die schönen alten Zeiten vorbei. Alles, was ungesund war und Spaß machte, Rauchen und Trinken in erster Linie, stand seither auf der roten Liste.
    »Sie können sich Ihre Lunge ja ruinieren. Aber nicht meine«, hatte der Junge damals gesagt, als sie das erste Mal miteinander gefahren waren. Kosinski schob die Zigarette vom linken in den rechten Mundwinkel. Dagegen war kein Einspruch möglich. In den Wochen darauf hatte er umfassenden Nachhilfeunterricht in Sachen Passivrauchen genossen. Seither rauchte er nur noch unter freiem Himmel – und auch das ging selten ohne Sprüche ab. »Jaja, die Abhängigen«, sagte der Junge dann mit todernster Miene. Kosinski nickte meistens ebenso todernst zurück.
    Irgendeine Sucht hatte jeder Mensch. Michael litt in Kosinskis Augen unter akutem Gesundheitswahn. Der Junge hatte immer irgendein Wundermittel dabei, das angeblich noch gesünder machte, noch energiegeladener, noch stärker und noch fitter. Jeden Monat entdeckte er eine weitere todsichere Methode. Kosinski weigerte sich standhaft, auch nur einem dieser Diätvorschläge oder Turnprogramme zu folgen, an die sich Michael angeblich hielt. Zugegeben: Der Junge war die wandelnde Reklame für diese Art von Askese, die sich Fitness nannte. Aber wahrscheinlich hatte der Kerl einfach nur prima Erbmaterial. Kosinski sah ihn von der Seite an: hellbraune

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