Wasser zu Wein
Ein Martyrium für einen empfindsamen Menschen. In seiner Not hielt er sich das Taschentuch vor die Nase. Fast wäre ihm wieder schlecht geworden.
Dabei war es erst Frühling. Im Sommer war es noch schlimmer. Im Sommer wurde nicht nur die Nase, sondern auch das Auge beleidigt – wenn sich wieder alle, leider auch die Männer, dazu eingeladen fühlten, in kurzen Hosen und kurzärmeligen Hemden herumzulaufen und anderen ihre Körperausdünstungen ungefiltert zuzumuten.
Normale Zeitgenossen konnten sich nicht vorstellen, wie sehr ein sensibler Mensch litt. Die Klars jedenfalls hatten nicht verstanden, warum er sich gezwungen sah, aus der »Traube« auszuziehen – zu seinem eigenen großen Bedauern, denn das einzige andere gehobene Hotel am Ort war wirklich keine Alternative. »Das richtet sich natürlich nicht gegen Sie, Herr Klar«, hatte er ihm zu erklären versucht. »Aber solange auch nur die Spur eines Zweifels besteht …«
Das lag doch eigentlich auf der Hand, oder? Wer, nach dem ominösen Tod Alain Chevailliers, eine ganze Nacht so schrecklich verbracht hatte wie er, der wollte Gewißheit, ob auch wirklich alles seine Ordnung hatte im einzigen Hotel am Rhein mit einem Michelin-Stern.
Sebastian Klar hatte gefaßt reagiert, nur Elisabeth hatte ihm die kalte Schulter gezeigt. Es war ihm allerdings nicht entgangen, daß Klars Hand schweißnaß gewesen war, als er sich verabschiedete. Normalerweise wäre ihm ein solcher Händedruck unangenehm gewesen – aber gestern hatte er Genugtuung gespürt. Wenn sie mich schon nicht lieben, sollen sie mich wenigstens fürchten.
Leicht außer Atem erreichte er den großen Ausstellungssaal, in dem die Klars die »Giganten«-Weinprobe im Rahmen des Galaprogramms zum »Frühling in Wingarten« veranstalteten. Weinprobe in einer Ritterburg! Das sollte wohl originell sein.
Er seufzte auf beim Anblick des Saales, der einmal bessere Zeiten gesehen hatte. In einem Alkoven stand eine unvollständige Ritterrüstung, der Bretterboden war grau und glanzlos und der Kronleuchter – aus Rebenholz – unerträglich kitschig. Nur Menschen mit Phantasie vermochten sich zurückzuversetzen in die Zeit, als in diesen Hallen Adel und Geist ihre edelste Verbindung eingegangen waren. Hier lohnten sich Investitionen, dachte er. Hier war die Tradition, auf deren Erhalt es ankommen sollte. Wingarten brauchte weder einen Tunnel noch einen neuen Hotelkomplex. Es brauchte, dachte von der Lotte, die Wiederbelebung seines größten und schönsten Erbes.
Der Anblick auf dem langen Refektoriumstisch entschädigte ihn für die vernachlässigte Umgebung. Hier hatten Victor Blasius, Christoph Corves, Anton Müller-Dernau, Walter Prior und ein paar andere Winzer ihre Schmuckstücke ausgestellt: die »Giganten«, Spezialabfüllungen ihrer besten Weine in den schönsten, in den größten Flaschen.
Er schöpfte Luft, spitzte die Lippen und ging dann mit vor lauter Vorfreude federnden Schritten einmal um den Tisch herum. Prior hatte einen Rauenthaler Nonnenberg Riesling von 1993 in der Sechsliterflasche mitgebracht – in der Methusalem, dachte er andächtig. An die neumodische Bezeichnung »Impériale« mochte er sich nicht gewöhnen. Er liebte die großen Flaschen, mit der Magnum für eineinhalb Liter angefangen. Jeroboam, murmelte er und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. So nannte man früher die Dreiliterflasche, die heute Doppelmagnum hieß. Mochte ja sein, daß sich das leichter aussprechen ließ, aber für ihn lag der Charme dieser gigantischen Flaschen auch in ihren sprechenden biblischen Namen: Eine Rehoboam faßte 4,5 Liter, dann kam die Methusalem mit 6 Litern, in die nächstgrößere, die Salmanazar, gingen 9 Liter hinein, eine Balthazar war für 12 Liter gedacht, und die sagenhafte Nabuchadonosor faßte 15 Liter. Er stand vor einer Flasche Winkeler Jesuitengarten von 1992, ebenfalls in einer Methusalem, und seufzte tief auf.
Früher, als der Reichtum, den man hatte, noch gezeigt werden durfte, beliebte man in den besseren Kreisen Champagner aus möglichst großen Flaschen auszuschenken. Die riesengroßen Flaschen waren in der Herstellung meistens teurer als ihr Inhalt – weshalb sie, wie so vieles, als Angeberei aus der Mode gekommen waren. Nur einige Winzer füllten heute noch ihre besten Gewächse in große Flaschen ab, oft auf Wunsch eines Kunden.
Müller-Dernau hatte kürzlich erzählt, er habe an einen Privatmann drei Jeroboam und eine Salmanazar verkauft – mit seinem besten
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