Wasser zu Wein
Haare, milchkaffeebraune Augen, gebräunte Haut, breite Schultern, stramme Muskeln. Er selbst hingegen war immer blaß gewesen, hager und aufgeschossen, sein ganzes Leben schon, auch damals, als er noch regelmäßig zum Eisenstemmen ging. Und zum Fußballspielen. Als er noch jung war.
»Bewegung«, sagte Michael gerade. »Bewegung ist das A und O im Stoffwechselgeschehen.« Was war denn das für ein Dr. Brinkmann-Geschwätz? Und wie kam er jetzt darauf? Kosinski merkte, daß er seinem jungen Kollegen schon einige Minuten lang nicht zugehört hatte.
»Und grüner Tee. Jeden Tag eine Kanne …«
»›Ich sage ja zu deutschem Wasser.‹« Kosinski zitierte den Standardsatz, den Michael immer brachte, wenn er sich mal einen Schoppen bestellte. Der Junge grinste und bretterte mit ziemlich ungesunder Geschwindigkeit die kurvenreiche Straße hoch.
»Das ist ja das Allerneueste.« In der Tat. Seit Kosinski vom Norden Hessens an den Rhein gezogen war, hatte er das Biertrinken eingestellt und lernte seither mit beträchtlicher Hingabe das Weintrinken.
»Jeden Tag eine Flasche Rotwein«, sagte er, »und du wirst steinalt.«
»Ach nee?« Michael bog links ab nach Lambsheim. »Hast du ne neue Entschuldigung gefunden?«
»Schon mal was vom French Paradox gehört?« Beate hatte ihn gestern auf Vordermann gebracht mit den neuesten Theorien über die positiven Wirkungen des Weingenusses – und mit ein paar Weinflaschen aus dem Keller ihres Vaters. Langsam machte ihm das Spaß. Und sein Arzt hatte ihn kürzlich beglückwünscht zu den guten Leberwerten.
»Die Franzosen saufen und fressen und sterben trotzdem nicht am Herzinfarkt. Und warum?«
Michael zuckte mit den Schultern.
»Bestimmte Stoffe im Rotwein sind gesund – zum Beispiel Resveratrol.« Kosinski wunderte sich, daß er das Wort ganz ohne Stottern rausgebracht hatte. Beate hatte diese und andere Weisheiten aus ihrer Frauenzeitschrift. Nächstens brachte man den Weibern dort auch noch das Rauchen dicker Havannas bei.
»Was?« fragte Michael.
»›Wie bitte‹!«
»Was?« fragte Michael. Manchmal war der Junge wirklich schwer von Begriff.
»›Wie bitte‹«, sagte er noch einmal. »Das heißt ›Wie bitte‹. Und Rotwein wirkt bei alten Knaben besser als Ginseng oder Knoblauchkapseln.«
»Wir bräuchten was gegen Dummheit im Straßenverkehr.« Michael setzte zu einem Überholmanöver an.
»Vielleicht. – Paß auf, wo du hinfährst!«
»Beruhige dich. Ich hab das alles im Griff.« Michael hatte ein weißes BMW-Kabrio überholt, dessen Fahrer, mit der Nase fast an der Windschutzscheibe, auf der Landstraße Schritt fuhr. »Es gibt Leute, die haben heute noch was vor!« rief Michael zu dem alten Herrn mit der Baseballmütze auf dem Kopf hinüber, der erbost die Faust schwang. »Scheißtouristen!«
»Man soll nicht in die Hand beißen, die einen füttert.« Kosinski legte milden Tadel in die Stimme.
Dann bogen sie in Lambsheim ein. Kosinski sah seinen jungen Mitarbeiter von der Seite an. Ob er es langsam überwunden hatte? Offenbar nicht. Wie immer, wenn sie durch Lambsheim fuhren, veränderte sich Michaels Gesicht. Kosinski hatte in seinem Leben schon einiges erlebt, ihn konnte nicht mehr viel erschüttern. Aber Michael war noch verwundbar. Am liebsten hätte er dem Jungen tröstend die Hand aufs Knie gelegt.
Gregor Kosinski erinnerte sich unbehaglich deutlich an den Tag, Pfingstsonntag war es gewesen, vor einem Jahr. Sie waren schon am Freitag von zu Hause weggefahren, Beate und er, von Berghain in der Rhön nach Wingarten am Rhein, wo die Schwiegereltern wohnten. Beate war eine treue Tochter. Früher hatte er manchmal gedacht, daß ihre Eltern sie gar nicht verdient hatten. Seine Schwiegermutter war ihm stets ein bißchen zu katholisch und sein Schwiegervater immer ein bißchen zu autoritär gewesen. Andererseits mochte er diese Ausflüge, wenn sie der Dienst nicht wieder einmal verhinderte – schon deshalb, weil es in der Rheinebene immer ein paar Grade wärmer war als in der rauhen Rhön. Deshalb hatte er die ganze grauenvolle Geschichte hautnah mitbekommen. Deshalb war er am Pfingstsonntag schon eine Dreiviertelstunde nach der Katastrophe am Tatort eingetroffen. Nicht in beruflicher Funktion – sondern als Angehöriger, auf der Suche nach seiner Schwiegermutter.
Doch das erste, was er damals wahrgenommen hatte, war Michael gewesen. Nicht die Zerstörung, die Toten, die Schwerverletzten. Sondern den jungen Kriminalbeamten, der da mitten in der Kirche
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