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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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in der Blumenschale mitten auf dem Tisch, direkt neben einer Rosette aus Eisen, waren vertrocknet.
    Er hob den Kopf. Über ihm hatte die graue Burgmauer eine etwa drei Meter breite Öffnung. Von unten sah das eher nach Austritt als nach Balkon aus. Links hingen verbogene Eisenstangen herab, Kosinski identifizierte die Streben und Rosetten als Teil einer Verzierung, die augenscheinlich keinen wirksamen Schutz gegen Abstürze abgegeben hatte. Gemeingefährlich, dachte er und ließ den Blick wieder nach unten wandern. Neben den Kreidestrichen auf dem grauen Granittisch lag eine bernsteinfarbene, schon halb mumifizierte Motte auf dem Rücken, die Flügel ausgebreitet. Er holte ein zerknautschtes Zigarettenpäckchen aus der Sakkotasche, betrachtete es eingehend und steckte es wieder zurück. »Ich geh mal einen Stock höher«, sagte er zum Notarzt. »Wenn was ist …« Der Mann winkte ihm zu, ohne von seiner Beschäftigung aufzusehen.
    Als er durch die schmale Tür in den Raum ein Stockwerk höher trat, hielt Kosinski verblüfft inne. Er hatte noch nie so große Weinflaschen gesehen. Hinter der bizarren Flaschenparade auf einem langen Refektoriumstisch sah er Sebastian und Elisabeth Klar, die beide die Hände auf dem Rücken verschränkt hielten und ziemlich durcheinander wirkten. Was Wunder: Sie hatten ja erst kürzlich einen Todesfall gehabt. Und jetzt war wieder einer gestorben – mitten in einer von ihnen verantworteten Weinprobe. Die meisten Gastronomen verübelten so etwas als Geschäftsschädigung.
    Er grüßte freundlich hinüber, legte dann ebenfalls die Hände auf den Rücken und schritt, leicht vornübergebeugt, die Flaschenparade ab. »Magnum«, murmelte Klar auf seinen fragenden Blick und deutete auf eine braune, schlanke Flasche links von ihm. »Anderthalb Liter. Und das ist eine Jeroboam. Auch Doppelmagnum genannt. Drei Liter. Methusalem. Sechs Liter.«
    Kosinski nickte und defilierte mit zur Seite geneigtem Kopf wieder zurück. »Dingensda Spätlese«, murmelte er beim Vorübergehen. Und: »Dingensbummens Auslese«.
    »Auch ein Glas, Herr Kommissar?« Kosinski hob den Kopf. Der »Traube«-Wirt wirkte blaß. Aus den Augenwinkeln sah er das wachsame Gesicht von Michael. Nach einer Bedenksekunde schüttelte er den Kopf. »Nicht im Dienst.« Was, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch nicht immer seine Devise gewesen war.
    »Hier hinten!« Michael ging voraus und um die Ecke zum Balkon, von dem aus der Mann zu Tode gestürzt war. Die Zeugen hatten sich an der Schmalseite des L-förmigen Raumes aufgestellt, als ob sie auf den Rekrutierungsoffizier der Heilsarmee warteten. Kosinski nickte Christoph Corves zu. Und August M. Panitz. Und Walter Prior. Und Anton Müller-Dernau.
    Die große Flügeltür stand weit offen. Die Farbe auf dem Holz war grau geworden oder abgeblättert. Das filigrane und von nahem noch morscher wirkende Eisengeländer vor dem Austritt war an zwei Stellen durchbrochen. Kosinski trat vorsichtig vor, um nach unten zu sehen. Der Notarzt packte gerade seine Tasche. Hier oben hatte es niemand für nötig gehalten, den Balkonbereich abzusichern. Verdammter Leichtsinn.
    Andererseits: Alles sprach für einen Unfall. Der Mann war gestolpert oder er hatte das Gleichgewicht verloren oder er hatte sich beim Runterschauen auf das morsche Gitter gelehnt. Und dann – Salto mortale.
    Aus den Augenwinkeln sah er, wie Michael die Gäste der Weinprobe in Schach hielt wie ein Schäferhund seine Herde. Der Junge übertrieb. Kosinski drehte dem offenen Balkon den Rücken zu und winkte ihn zu sich.
    »Und?«
    »Der Mann hatte offenbar – ein Alkoholproblem. Sagt der Wirt von der ›Traube‹.«
    »Der muß es wissen.«
    »Der Tote hatte den Spitznamen ›Volle Lotte‹.«
    Kosinski prustete. Michael guckte mißbilligend. Dann gingen sie zurück zu den wartenden Männern und Frauen.
    »Sind alle Teilnehmer an der Weinprobe versammelt?« fragte Kosinski in die Runde. Einige nickten, andere hatten den Kopf gesenkt und kontrollierten offenbar den Zustand ihrer Schuhspitzen.
    »Hat irgend jemand gesehen, wie es passierte?«
    Allgemeines Kopfschütteln. Kosinski nickte zu Michael hinüber. Nachdem er die Personalien aufgenommen hatte, konnte man die versammelten Weintrinker wieder ihrem Vergnügen überlassen, sofern ihnen das nicht gründlich vergangen war.
    Als er aufsah, winkte ihm der Notarzt vom Treppenaufgang her zu – mit knallrotem Gesicht. Entweder hatte der Mann ein Problem mit dem Blutdruck, oder es

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