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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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gestanden und verzweifelt versucht hatte, Haltung zu bewahren – während ihm die Tränen über das Gesicht liefen, über ein Gesicht, das Unschuld und Fassungslosigkeit zugleich ausdrückte.
    Kosinski hätte den Jungen damals beinahe in den Arm genommen und ihm die Tränen abgewischt. Statt dessen hatte er ihm sein Taschentuch in die Hand gedrückt, ihm zweimal auf die Schulter geklopft und ihm leise gesagt, er solle nach Hause gehen. Und seitdem verband sie etwas, den älteren Mann mit dem jüngeren.
    Der Junge kann noch weinen, dachte Kosinski. Ich nicht mehr.
    Er hatte damals keine Träne vergossen, auch nicht, als er das Ausmaß der Katastrophe überblickte – und noch nicht einmal, als er das kleine Mädchen sah. Wie eine Puppe hatte sie inmitten der Trümmer gelegen, äußerlich scheinbar unverletzt, fast friedlich. Das war das Schlimmste, was ihm seit langem begegnet war.
    »Der Tote auf Monrepos«, sagte er zu Michael, um ihn abzulenken. Maximilian von der Lotte hieß der Mann, der in der alten Ruine vom Balkon gefallen war. »Wahrscheinlich war es ein Unfall.«
    »Wahrscheinlich«, antwortete Michael mechanisch.
    Kosinski warf die nasse Kippe, die ihm noch immer im Mundwinkel gehangen hatte, aus dem halb heruntergelassenen Fenster. »Bei einer Weinprobe wird Alkohol getrunken. Und Monrepos gilt als baufällig. Da passiert so was schon mal.«
    Michael reagierte nicht.
    »Andererseits – der Mann ist schon der zweite tote Weinkritiker in drei Tagen.« Von der Lotte hatte die Klars von der »Traube« beschuldigt, sie würden ihre Gäste in Lebensgefahr bringen, und sich dabei auch auf den Tod von Alain Chevaillier bezogen. Die Geschichte hatte gestern in der »FAZ« gestanden. »Schaun wir halt mal.«
    Michael sagte noch immer nichts. Aber was sollte er auch sagen?
    An dem mit einer dicken rostbraunen Kette und einem Vorlegeschloß verrammelten Tor zur Burg Monrepos hing ein verbeultes »Heute geschlossen«-Schild. Der Tote hatte sich »Schriftsteller für Lebensart« genannt. Was für eine lächerliche Berufsbezeichnung. Kosinski schüttelte den Kopf und machte »Phhh!« Aus den Augenwinkeln sah er, wie Michael endlich wieder zu ihm hinschaute – mit zusammengezogenen Augenbrauen. Hoffentlich, dachte der Junge wahrscheinlich, wird der Alte nicht senil.
    Michael parkte am Straßenrand, zog die Handbremse, zögerte ein paar Sekunden und suchte Kosinskis Blick. Der nickte ernst zurück. Dann erst stiegen sie aus.
    Er wußte nicht mehr, wann sie sich angewöhnt hatten, kurz vor einem Einsatz dieses kleine Ritual aufzuführen. Vielleicht brauchte Michael das. Vielleicht wollte er sich damit auch für den allerschlimmsten Fall wappnen: daß ihm wieder eine Katastrophe begegnete. Wieder etwas so Grauenvolles wie der Selbstmord in der Kirche von Lambsheim.
    Der junge Polizist, der am Eingang zur Burg Wache schob, grüßte Kosinski mit Respekt und guckte an Michael vorbei. Der war nicht wichtig genug. »Da entlang«, sagte er, »die Treppe hoch, im dritten Stock.« Kosinski ging voran: durch den Hof mit den acht antiken Weinpressen, imposanten Geräten aus mannsdicken Balken, dann in den gepflasterten Innenhof und schließlich durch die schmale Tür zur Wendeltreppe. Auf der Aussichtsterrasse war die Leiche gefunden worden. Also war der Mann vom Balkon ein Stockwerk darüber abgestürzt.
    Nach der dritten Windung ging Kosinski die Luft aus. Er machte auf dem Treppenabsatz halt und winkte Michael vorbei, der sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen konnte. Zu irgend etwas mußte sein Gesundheitsfimmel ja gut sein, dachte Kosinski, als er dem leichtfüßigen Kerl hinterhersah und dann, langsamer, folgte. »Geh du schon mal zu den Zeugen!« rief er Michael hinterher und nahm konzentriert Stufe für Stufe, eine nach der anderen. Er wollte sich erstmal den Leichenfundort anschauen.
    In der einen Ecke der Aussichtsterrasse drängte sich eine Gruppe zugleich verschreckt und neugierig guckender Besucher, im größeren, durch rotweißes Sicherungsband abgetrennten Teil sah man den Notarzt neben dem regungslosen Körper knien. Ein älterer Polizeibeamter kratzte sich den Kopf unter seiner nach vorne gerutschten Mütze und sah zu. Kosinski nickte hinüber und ging zu dem Tisch mit der großen Steinplatte, auf der mit Kreidestrichen die Position markiert war, in der man die Leiche gefunden hatte. Links von der ebenfalls steinernen Bank stand ein Putzeimer aus Blech, auf dem ein grauer Feudel trocknete. Die Geranien

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