Wasser zu Wein
hatten hinterher irgend etwas zu ihrer Entlastung vorgebracht. Von einer Verkettung unglücklicher Umstände war die Rede gewesen. Seither hatte sich Sebastian diesen Terminus verbeten. Es gab guten Service oder schlechten. Es gab eine gute Küche oder eine schlechte. Aber es gab niemals, niemals eine »Verkettung unglücklicher Umstände«. Jedenfalls nicht in der »Traube«.
Die Bar sah auf den ersten Blick tadellos aus. Der Edelstahl blitzte, die Gläser funkelten, und die Flaschen mit den Spirituosen standen in Reih und Glied. Er öffnete die Kälteschubladen. Auch das sollte nie wieder passieren: daß einer seiner Kellner einen offenen Wein ausschenkte, der schon tagelang in der Flasche vor sich hin oxidiert war. Spätestens nach zwei Tagen war ein Wein in der geöffneten Flasche klinisch tot – der Korken konnte noch so tief hineingedrückt worden sein. Deshalb hielt er die Barbesatzung an, jede Flasche mit Datum und Uhrzeit zu versehen, so daß man wußte, wann der Wein geöffnet worden war. Lieber eine halbleere Flasche wegschütten als einen Gast vergraulen, war seine Devise. Oder, mit dem großen Brillat-Savarin gesagt: »Jemand zu Gaste laden, heißt für sein Glück sorgen, solange er unter unserm Dache weilt.« Das hatte Klar senior immer zitiert.
Sebastian zog den Korken aus dem Riesling von der Nahe, der gestern geöffnet worden war und goß sich einen Schluck ins Probierglas. Der ging noch durch. Den winzigen Rest der Cuvée aus Weißburgunder und Chardonnay von Johner schüttete er sich ganz ein und stellte dann die leere Flasche weg. Auch das wäre noch gegangen. Aber, bei aller Sparsamkeit: Das lohnte sich nicht mehr.
Die drei Roten waren gestern erst geöffnet worden. Trotzdem probierte er sie alle, vorsichtshalber: den Beaujolais Villages. Den Côte du Rhône. Den Cahors. Jedesmal goß er mehr in sein Probierglas. Nach dem vierten Glas waren die Herzschmerzen einem leisen Ziehen in der Herzgegend gewichen. Sein Kopf schien weit über seiner Schädeldecke zu schweben. Und nach dem fünften Glas fühlte er sich so unverletzlich wie Siegfried.
Er hatte sich noch nie betrunken – »ich bin im Dienst« sagte er immer, wenn ein Gast mit ihm trinken wollte. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Er hatte sich lange nicht mehr so leicht gefühlt. »Ja, der Chiantiwein«, summte er – obwohl er von Chianti nichts hielt. Als er an Tisch 6 vorbeitänzelte, klirrten die Gläser.
14
Wie konnte er ihr das antun? Wie konnte er auch nur für eine Sekunde daran denken? Elisabeth goß sich einen Cognac ins Glas. Ihr wurde ganz übel bei der Vorstellung. Ein Kind? Mit Sebastian? Sie leerte das Glas in einem Zug. Wie konnte er. Wie konnte er nur. Oder erinnerte er sich nicht? Was damals geschah, damals, als sie das letzte Mal miteinander im Bett gelegen hatten? Wußte er das wirklich nicht mehr?
Sie strich sich mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht. Aus dem Spiegel auf ihrem Frisiertisch, vor dem sie saß, blickte ihr ein blasses Gesicht entgegen. Sie drückte die Zigarette aus, die schon eine Weile im Aschenbecher gelegen und blaue Rauchkringel zur Zimmerdecke geschickt hatte. Der Himmel draußen war so grau wie ihr Gemüt. Wenigstens regnete es nicht mehr. Sie blies die Kerze auf dem Frisiertisch aus, stand auf und schaute nach Mönch, der auf dem Sofa lag und leise schnarchte. Dann holte sie das Tweedjackett aus dem Kleiderschrank und verließ das Zimmer.
Elisabeth bog in die Gasse ein, die in die Oberstadt führte. Sie ging schnell, ging immer schneller. Als sie oben ankam, war sie ganz außer Atem. Das ältere Paar, das am Kassenhäuschen vor der Seilbahnstation stand, beide mit kurzen weißen Haaren und in dunkelgrünen Regenjacken, sah ihr entgegen. Elisabeth wandte ihnen den Rücken zu, bis sie dran war. Sie schob ein Fünfmarkstück durch den Schlitz unter der Glasscheibe des Kassenhäuschens. Der Mann kannte sie schon und lächelte sie freundlich an. Sie lächelte mechanisch zurück. So, wie sie alles mechanisch zu machen schien seit einiger Zeit.
Das Paar war aus ihrem Gesichtskreis entschwunden, als Elisabeth sich in den Sessellift setzte. Sie wußte nicht mehr, warum sie wieder begonnen hatte, auf diese Weise Trost zu suchen: bei einer Fahrt mit der Seilbahn über die Weinberge von Wingarten – und, vor allem, wieder zurück. In den ersten Wochen danach war sie oft hinaufgefahren, gleich morgens, wenn die Sonne noch niedrig stand und ihr keine Touristen begegneten, die hätten sehen
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