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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Kleinigkeit an, auf jedes Detail. Es kam auf alles an. Es ging um die Wurst. Er merkte, wie ihm der kalte Schweiß aus den Poren trat. Es ging um die Existenz. Sein Steuerberater hatte mit Blick auf seine Jahresabrechnung fassungslos den Kopf geschüttelt. »Sie pokern hoch, Herr Klar!« hatte er gesagt. »Sie wissen doch gar nicht, ob Ihre Rechnung aufgeht! Sie riskieren alles!« Alles? Klar stützte sich mit der rechten Hand auf Tisch 5 und merkte erst gar nicht, daß sein Schweiß einen feuchten Fleck auf dem Tischtuch hinterließ. Der Mann hatte keine Ahnung.
    An Tisch 5 fehlte ein Buttermesser. An Tisch 4 zwei Dessertlöffel. An Tisch 3 eine Serviette. Er ging hinüber zur Anrichte, auf der ein Strauß mit leuchtend dunkelroten Pfingstrosen stand, und holte die fehlenden Besteckteile aus der obersten Schublade. Die Servietten lagen eine Schublade tiefer. Er brachte sie mit Hilfe einer Gabel in eine kunstvolle Fächerform und drapierte sie auf den Platzteller.
    Fast war er dankbar für jeden Fehler seines Personals, den er korrigieren konnte. Das lenkte ab von allem. Das lenkte ab von dem Gesicht, das sich immer wieder vor seine Wahrnehmung schob. Von diesem Gesicht, in dem er so viele fremde Gefühle gelesen hatte. Ekel. Abwehr. Und schließlich – wenn ihn nicht alles täuschte – Angst. »Warum hast du Angst vor mir, Elisabeth?« fragte er sich und blieb in der Mitte des Raumes stehen, um wieder nach seinem Herzen zu fassen. »Und das jetzt! Ausgerechnet jetzt! Wo ich dich brauche!«
    »Aber ich liebe dich doch!« hatte er ihr hinterhergerufen. Sie hatte sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht gestrichen und nichts gesagt. Ihr Gesicht sagte alles. Sebastian stöhnte auf und hätte fast das Buttermesser fallen lassen, das er noch immer umklammert hielt. Er wischte den Schweiß, den seine Hand auf dem Messer hinterlassen hatte, an seiner grauen Flanellhose ab und legte es an seinen Platz.
    Nein, Gefühle konnten sie sich nicht leisten. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er zum großen Ölgemälde hoch, das über der Anrichte hing. Großvater Klar wäre gar nicht auf die Idee gekommen, sich durch Liebeskummer von der täglichen Arbeit an allerhöchster Qualität ablenken zu lassen. »Al-ler-höch-ste Qualität«, murmelte sein Enkel. Großmutter Klar wäre ebensowenig auf die Idee gekommen, türeschlagend aus dem Haus zu laufen. Sie hätte sich nach einer angemessenen Trauerzeit nach dem Tod eines Kindes schnellstmöglich wieder in andere Umstände bringen lassen und sich nach neun Monaten ebenso routiniert ins Kindbett begeben. Elisabeth hatte diese Möglichkeit nie auch nur ins Auge gefaßt, und als er ihr heute morgen – andeutungsweise! – davon gesprochen hatte, war dieser unbeschreibliche Ausdruck über ihr Gesicht gezogen. Ekel. Abwehr. Angst.
    Sebastian rückte die Stühle an Tisch 2 zurecht und wedelte mit der Hand ein Staubkörnchen vom Platzteller an Tisch 3. Hannes Mohrmann hatte sich für heute mittag angesagt, der Frankfurter Journalist, der sich offenbar in aller Ruhe anschauen wollte, wie das Unheil aussah, das er mit seiner Story ausgelöst hatte. Wie konnte ein seriöser Journalist Lottes grotesken Verdächtigungen über die »Traube« und ihren Besitzer auch nur für eine Sekunde Glauben schenken! Der Mann würde natürlich trotzdem einen erstklassigen Service bekommen. Das war die schönste Rache, die Sebastian Klar sich vorstellen konnte.
    Nie wieder sollte passieren, weshalb ihm 1986 der Stern entgangen war, den er schon sicher geglaubt hatte. Doch, es war Pech im Spiel gewesen – Elisabeth hatte ihre Tage, Johannes Ehekrach, die beiden Mädchen waren frisch angelernt, und in der Küche herrschte dicke Luft, weil ein Lieferant nicht das Richtige beigebracht hatte. Natürlich mußte ausgerechnet an einem solchen Tag ein Testesser erscheinen. Aber der hatte nicht nur das sprichwörtliche Haar in der Suppe gefunden, dem hatte man den Spätburgunder mitten im heißesten August mit Zimmertemperatur serviert – als 25 Grad warme, schlappe Brühe. Der Mann hatte um einen Kühler gebeten – und vorgeschlagen, eine weitere Flasche des Weines vorsorglich schon mal in den Kühlschrank zu legen, Pinot Noir vertrage das. Daraufhin hatte eines der beiden Mädchen pampig gesagt: »Das ist ein Spätburgunder.« Sebastian stöhnte auf. Eben. Und dann hatte der Mann auch noch eine dreiviertel Stunde auf den Hauptgang warten müssen. Und niemand, auch er nicht, hatte sich bei ihm entschuldigt.
    Alle

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