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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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können, daß sie sich die Seele aus dem Leib weinte. Hatte halb blind vor Tränen zum Friedhof hinübergesehen, dorthin, wo sie begraben lag, Bettine, ihr Kind, ihr einziges.
    Sie legte sich den Sicherheitsbügel über die Knie. Und schon schwebte sie aus der Bodenstation hinaus, immer höher über die Häuser von Wingarten hinweg, über die Gärten, die Straßen, die Hecken, den Waldrand.
    Von der Seilbahn aus hatte man die ersten zehn, zwanzig Meter lang einen intimen Blick auf den Teil von Wingarten, in dem die kleinen Leute wohnten – das ärmere Wingarten. Man schwebte nur wenige Meter über den Häusern und Gärtchen. Unter ihr schwitzte ein Mann in weißem Unterhemd und kurzer Hose, über deren Bund sich der Bauch wölbte. Er bearbeitete seinen handtuchschmalen Garten mit der Hacke. Erbsenreiser staken im Boden, Salatpflanzen hatte er gesetzt, auch schon Tomatenpflanzen. Sie konnte von hier oben die kleinen blauen Haufen von Schneckenkorn erkennen, die er vor jedes seiner Salatpflänzchen geschüttet hatte. Der Mann war ihr ganz nah. Aber er sah nicht zu ihr hin. Wahrscheinlich vermied er es, nach oben zu schauen, wenn, beginnend mit dem Frühjahr und bis in den Herbst hinein, Bataillone von Touristen an seinem Beispiel das typische Leben eines typischen Wingarteners studierten. Der arme Kerl, dachte Elisabeth. Ein Leben im Zoo.
    Aus dem nächsten Garten winkte jemand: ein zerbrechlich wirkendes Kind mit abstehenden braunen Zöpfchen. Elisabeth merkte, wie es ihr die Kehle zudrückte. Die kleine Nicole war mit Bettine im Kindergarten gewesen. Sie winkte matt zurück und zwang sich, sich loszureißen vom Anblick des kleinen Mädchens, das begeistert hochsprang beim Winken, begleitet vom aufgeregten Bellen eines gelben Hundes, der auf dem Grundstück nebenan die Pfoten ans Gitter seines Zwingers gestemmt hatte und mit wehendem Schweif zu ihr hochkläffte.
    Sie hätte sich in ihrem Sitz umdrehen müssen, um die »Traube« zu sehen, die weiter unten an der Uferpromenade lag. Die Häuser hier oben hatten keine Ähnlichkeit mit dem prachtvollen alten Hotel, sie waren bescheidene Fachwerkhäuser, die meisten verputzt oder mit grauen Eternitplatten verkleidet. In den 60er Jahren war es Mode gewesen, Fachwerkfassaden zu verkleiden. Es war mühselig, Fachwerk regelmäßig gegen Wind und Wetter zu schützen.
    Sie seufzte auf bei dem Anblick. Sie war in Wingarten aufgewachsen. Im »besseren«, im reicheren Wingarten. Damals war die »Traube« ein verwinkeltes, verstaubtes und langsam dem Verfall entgegendämmerndes Mausoleum gewesen, weit entfernt von der Eleganz und dem Ruf, den sie heute besaß. Der heutige Glanz des Hotels – das alles war ihr Werk gewesen. Ihres und Sebastians. Früher war sie stolz darauf gewesen.
    Als links von ihr der kleine Friedhof auftauchte, wappnete sie sich gegen den Ansturm der Gefühle, den sie bei diesem Anblick gewohnt war. »Bettine«, sagte sie leise und merkte, wie das Wort allein genügte, ihr die Tränen in die Augen zu treiben. Daß auch der schlimmste Schmerz einmal nachlasse, glaubte sie nicht mehr. Daß die tiefe, die reißende Trauer einmal der milderen Erinnerung weichen würde, glaubte sie ebenfalls nicht. Schon, weil sie das gar nicht wollte. Sie wollte die Wunde offen halten, sie wollte die Trauer und den Schmerz, immer, immer wieder. Sie schloß die Augen und öffnete sie gleich wieder. Sie wußte genau, wo das Grab lag, auch wenn es von hier aus nicht zu sehen war.
    Dafür sah sie etwas anderes. Elisabeth riß ungläubig die Augen auf und umklammerte den Sicherheitsbügel vor ihr. »Nein!« versuchte sie zu rufen, aber ihre Stimme brachte nur ein Krächzen zustande. Sie beugte sich weit nach vorn, um zu sehen, genauer zu sehen. Ein kleines Mädchen mit wehenden dunklen Locken lief über den Friedhofsweg, am Grab der alten Else vorbei. Das Kind schrie irgend etwas, das sie nicht verstehen konnte, sah sich um, mit Entsetzen im Gesicht, wie sie zu erkennen glaubte, schrie wieder, lief stolpernd weiter.
    Elisabeths Hände verkrampften sich um den Sicherheitsbügel, sie erhob sich halb von ihrem Sitz, hätte fast das Gleichgewicht verloren. »Nein!« rief sie wieder, diesmal schon lauter. Ein Mann lief dem Kind hinterher, ein großer, glatzköpfiger Mann, die Arme im karierten Hemd über den Kopf erhoben. Der Mann hatte ein Holzkreuz in den Händen, eines dieser Kreuze, die man auf frische Gräber steckt, bis der Grabstein fertig ist. Er hielt das Holzkreuz über dem Kopf,

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