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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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als ob er damit zuschlagen wollte.
    »Nein!« Elisabeth brüllte jetzt und beugte sich weit vor. Der Mann reagierte nicht, er stolperte dem kleinen Mädchen hinterher, gefährlich schlingernd, aber unbeirrt. Sie zitterte am ganzen Körper, hatte schon den Sicherheitsbügel nach oben geschoben und wollte springen, springen und helfen, zu Hilfe kommen – »Hilfe«, stammelte sie und guckte verzweifelt nach unten. Unter ihr ragten Felsen auf, streckten Nadelbäume die Zweige nach ihr aus. Sie blickte wieder auf, zum Friedhof hinüber.
    Das Mädchen. Das kleine Mädchen. Bettine, dachte sie. Bettine! Es hatte sich umgesehen nach seinem Verfolger, das hatte sie noch wahrgenommen. Jetzt sah sie das Kind nicht mehr und wollte schon aufatmen. Aber der Mann lief weiter, zielbewußt, und als er das Holzkreuz mit Wucht hinunterstoßen ließ, wußte Elisabeth, daß er sein Ziel gefunden hatte. Der Mann schlug zu, mit dem Kreuz, wieder und wieder. Sie glaubte, das Schreien des Kindes zu hören und das Splittern des Holzes und versuchte noch einmal, während die Seilbahn unbeirrt fortschwebte, einen Blick auf die beiden zu erhaschen. Als der Mann endlich seinen Kopf hob, lag der Friedhof schon fast hinter ihr – aber sie glaubte zu erkennen, wer es war. Ja, sie war sich sicher: Sie wußte, um wen es sich handelte. Sie hatte das Gesicht des Satans gesehen.
    Vor Tränen halb blind und vor Emotionen schwindelig lehnte sie sich tief atmend zurück. Das war’s.
    War’s das? Irgend etwas störte plötzlich ihre Gewißheit, irgend etwas nagte an ihr, irgendetwas wollte sie schütteln, aufrütteln, irgend etwas rief »Nein!« und »Elisabeth!« Sie strich sich die Haare aus der Stirn und versuchte, durch den Tränenschleier hindurch zu sehen. Irgend etwas stimmte nicht. Unwillig fuhr sie sich wieder über die Stirn. Was stimmte nicht? Sie hatte doch alles genau gesehen: Das Kind. Den Mann. Das Holzkreuz.
    Sie konnte das alles gar nicht gesehen haben.
    Quietschend arbeitete sich die Seilbahn vorwärts.
    Irgend etwas sagte ihr das. Sie schüttelte widerwillig den Kopf. Aber sie hatte doch …
    Sie hatte nicht. Sie hatte das alles gelesen. Gestern. In der Zeitung.
    Sie schüttelte wieder den Kopf. Und plötzlich wurde ihr Blick klar – sie sah den Wald. Die Berge. Den Fluß. Den kreisenden Bussard. Den Schwarm Vögel, der wie eine Rauchwolke aus dem Wäldchen vor ihr aufgestiegen war. Sie hatte das alles tatsächlich nicht gesehen, nicht wirklich. Der Mann – das Grabkreuz – das Kind: Das alles war geschehen, schon richtig. Aber nicht in Wingarten, sondern weit weg. Und nicht soeben, vor zehn Minuten. Sondern vor einem Jahr. Und gestern, in der Zeitung, hatte sie gelesen, daß der Täter lebenslänglich in die Psychiatrie eingewiesen worden war. Das Kind hatte schwer verletzt überlebt.
    Elisabeth atmete tief ein und wieder aus. Was war bloß mit ihr los? Wie konnte sie sich bloß so verrennen? Fast hätte sie alles riskiert. Fast hätte sie alles zerstört in ihrem Wahn. Sie schluckte. Ihr Mund war trocken. Hatte sie womöglich schon alles zerstört? Was hatte sie getan in diesem ganzen langen Jahr, in dem sie sich hinter ihrer Trauer verschanzt hatte? Was hatte sie geschehen lassen? Was war geschehen?
    Im grauen Licht eines trüben Tages schimmerte das frische Grün der Bäume. In zwei Tagen war Pfingsten. Bettines Tod war ein Jahr her. Sie merkte, wie ihre Trauer sich schwerfällig hob und langsam davonflatterte. Es war Zeit, wieder in der Gegenwart anzukommen. Es war Zeit für einen Neuanfang.
    Sie dachte an Sebastian und hatte plötzlich Gewissensbisse. War es vielleicht doch schon zu spät?

15
    »Ich hab an Sie gedacht – Susanne.« Panitz legte Samt in seine Stimme. Die näheren Umstände dieses Gedenkens verschwieg er ihr. Oder sollte er ihr vielleicht erklären: »Ich habe so heftig von Ihren Brüsten geträumt, daß ich nicht gemerkt habe, wie ich besoffen auf dem Hosenboden inmitten einer Weinpfütze hier in diesem Keller saß, in dem damals Hektoliter von Rieslingweinen gärten, woran ich fast erstickt wäre.« Sie strahlte ihn an. Er hatte den Verdacht, daß sie jeden anstrahlen würde, der sich ihr freundlich näherte, aber er beschloß, dieses wunderbare Lächeln ganz und gar persönlich zu nehmen.
    Die Besucher traten sich gegenseitig auf die Füße in Anton Müller-Dernaus Keller. Der Winzer stellte heute seine neuen Weine vor – und was man damals im November nur ahnen konnte, hatte sich aufs Schönste erfüllt.

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