Wasser
ungefähr zehn Meter zurück. Daran besteht kein Zweifel.« Bent deutet auf den Gletscherarm und zeigt mir, wo sich dieser zuvor befunden hat. »Über die Entwicklung des Grönlandeises lässt sich allerdings nur wenig Sicheres sagen. An einigen Stellen schwindet es, an anderen nimmt es zu.« Während Eisberge, so hoch wie Wolkenkratzer, am Horizont über das Meer gleiten, verraten mir die beiden dänischen Wissenschaftler, dass sie über die künftige Entwicklung des Grönlandeises keine eindeutigen Voraussagen treffen können oder wollen. Besonders deutlich unterstreichen sie, wie wichtig es ist, Vorsicht walten zu lassen. Denn noch immer weiß die Forschung nur sehr wenig darüber, wie sich die Gletscher verhalten und wieso sie sich so verhalten, wie sie es tun.
An anderen Orten auf Grönland lassen sich Wissenschaftler in Brunnen und Tunnel hinunter, die das Wasser im Inneren des Eises gebildet hat. Einige sind davon überzeugt, dass das Schmelzwasser ein viel schnelleres Abgleiten des Eises ins Meer bewirkt, als es die gängigen Klimamodelle vorhersagen, wenn seine Menge zunimmt. Sie fragen, ob das Geräusch des fließenden Wassers unter den Gletschern das Alarmsignal für die Zukunft der Menschheit ist, das bescheidene Vorspiel auf dem Weg zum Umkipppunkt, ein Signalalso, das einen viel schnelleren Anstieg der Weltmeere ankündigt, als er angenommen wird. Für andere hingegen klingt dieses Fließen wie zarte Musik, denn sie erwägen, ob es sich hierbei um die Geräuschkulisse einer geradezu märchenhaften wirtschaftlichen Zukunft Grönlands handelt.
»Wasserkraft ist Grönlands neuer Wachstumsmarkt. Das erste Kraftwerk ist bereits gebaut, gleich außerhalb von Tasiilaq.« Der dänische Wasserkraftingenieur, der mich in einem verbeulten Pickup aus der kleinen Siedlung hinausfährt, ist sich völlig sicher. Er möchte mir das örtliche Wasserkraftwerk zeigen, das ich schließlich nach ein paar Kilometern Fahrt auf unbefestigter Straße ganz unten am Fjord entdecke. Nichts an der bescheidenen Architektur deutet darauf hin, dass das Kraftwerk möglicherweise eine Revolution in Grönlands Ökonomie einläutet. Doch mit immer mehr Schmelzwasser in den Flüssen und dem in den Bergen lagernden Eis besteht natürlich ein enormes Potenzial. Für viele auf Grönland könnte Wasserkraft die ganze Insel modernisieren und entwickeln. Einige überlegen bereits, enorme Mengen Energie über unterirdische Leitungen nach Kanada und in die USA sowie über Island und die Färöer nach Europa zu exportieren. Auch die Produktion von Wasserstoff aus vorhandenem Wasser wird diskutiert. Europa und die USA stünden als »grüne Märkte« zur Verfügung. Das Wasserkraftpotenzial Grönlands wird von manchen bereits auf 8000 Terrawattstunden pro Jahr veranschlagt, was ungefähr dem vierfachen Stromverbrauch der USA und dem zehnfachen gegenwärtigen Bedarf Europas entspräche.
Die riesigen Eismassen, die viele aufgrund der globalen Erwärmung schon in fließendes Wasser verwandelt sehen, das irgendwann von den hohen Bergen herunterstürzt, sollen Grönland in einen energieproduzierenden Giganten verwandeln. Und während mir der Ingenieur auf einem Bildschirm zeigt, wie viel Energie gerade produziert wird, erinnere ich mich an die Epoche vor der »neuen Unsicherheit«, also an die 1970er Jahre, als globale Erwärmung noch ein völlig unbekannter Begriff war. Damals wurde vorgeschlagen,das Grönlandeis künstlich abzuschmelzen. Eine kuriose Idee dafür war, dass sich die Kohlefabriken Großbritanniens und der USA ihrer heißen Asche entledigen könnten, indem sie sie auf grönländischem Eis verteilten.
Und was passiert eigentlich, wenn das Eis schmilzt und eine Insel freigibt, die voller Mineralien und sonstiger Reichtümer ist? Die Entwicklung der Eisverhältnisse auf Grönland hatte schon immer globale Bedeutung, die sich künftig durch die gewachsene Aufmerksamkeit für Klimaveränderungen noch verstärken wird. Schmilzt das Eis jedoch, wird dies auch weitreichende Konsequenzen für die gesamte Eismeerregion nach sich ziehen. Dänemarks Kontrolle über die Insel wird dann wahrscheinlich schnell der Vergangenheit angehören. Während des Kalten Krieges war Grönland ein vorgeschobener militärstrategischer Posten im Kampf zwischen den Supermächten, in erster Linie für die amerikanischen Basen. Schmilzt das Eis, wird sich Grönland nicht nur in einen Hotspot, in ein globales Barometer verwandeln, sondern auch in eine Arena für die
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