Wasser
Positionierung der Großmächte im Kampf um neue Ressourcen und die Kontrolle des Nordpolarmeeres. Amerikanische, russische, japanische, chinesische und kanadische Interessen werden dann aufeinanderstoßen. Schiffe, die von der amerikanischen Westküste nach Nordostasien unterwegs sind, werden fast 40 Prozent weniger Fahrtzeit benötigen, wenn sie bei verringertem Eis im Polarmeer die Nordwestpassage nutzen anstatt durch den Sueskanal oder den Panamakanal zu fahren. Die Reedereien werden ungefähr 250 000 Dollar pro Fahrt und Schiff einsparen, und Wirtschaft und Politik sitzen in Erwartung noch deutlicherer Klimaveränderungen bereits jetzt in den Startlöchern. Und was mag sich nicht nur in Grönland, sondern auch in Kanada, Alaska und nicht zuletzt Sibirien an Mineralien und Rohstoffen unter dem Eis verbergen? Werden die Klimaveränderungen die Menschen auf der Nordhalbkugel noch privilegierter machen, als sie es jetzt schon sind?
An einem grauen Nachmittag, die kalten Winde fegen unablässig über uns hinweg, fahre ich in einem kleinen Boot zwischen den Eisbergenund dem Treibeis außerhalb von Tasiilaq umher. Während ich zitternd die Geschicklichkeit des Bootsführers bewundere – er muss darauf achten, dass das Gefährt nicht von den umhertreibenden Eismassen eingezwängt wird – und ein paar farbenfrohe Häuser in der Natur entdecke, die trotzig aus ihrer ungastlichen Umgebung hervorstechen, steht für mich fest: Der Klimawandel ist keine Veränderung, die die Menschen in einem gemeinsamen Kampf um die Zukunft des Planeten zusammenrücken lässt. Erst wenn man begreift, dass viele die Frage stellen werden »Was springt für mich dabei heraus?«, wird man auch die Konsequenzen der »neuen Unsicherheit« verstehen.
»Alles gut?« Der Helikopterpilot, der mich zurück nach Kulusuk bei Tasiilaq fliegt, möchte wissen, ob mein Ausflug gelungen ist. Als wir unsere Sachen aus dem Cockpit holen, strahlt die Sonne noch immer, doch langsam kehrt der Nebel zurück. Eigensinnig und unbarmherzig raubt er den Bergen ihren Charme und lässt sie feindselig und abweisend erscheinen. Ich werfe einen letzten Blick auf diese Eiswüste, die gewiss eine Hauptrolle bei den Diskussionen über die unsichere Zukunft der Menschen spielen wird. »Ja«, erwidere ich, »das war nicht nur gut, sondern auch sehr lehrreich.«
Von der Acqua Vergine in die Stadt, die nicht untergehen will
Auf dem Grabstein des 1821 verstorbenen englischen Dichters John Keats in Rom steht: »Here lies One Whose Name was writ in Water« (Hier ruht einer, dessen Name in Wasser geschrieben wurde). Offenbar wollte er das Flüchtige des Daseins unterstreichen und benutzte, wie viele seiner romantischen Zeitgenossen, Wasser als Metapher, um existenzielle Fragen zu beschreiben. Das Bild ist ausdrucksstark, denn Wasser löscht alle Spuren und – was Keats wahrscheinlich nicht wusste – besitzt chemische Eigenschaften, die es als Mittel zur Auflösung unübertroffen machen. Aus einem anderen Blickwinkel könnte man auch sagen, dass Geschichte und Zukunft in Wasser geschrieben sind, was nicht zuletzt auf das Land zutrifft, in dem Keats gestorben ist: Italien. Die Vergangenheit von Rom und Venedig, der Renaissance-Städte Florenz und Pisa und nicht zuletzt eine Studie über das Erstarken der Mafia auf Sizilien, die dort die knappen Wasserressourcen kontrolliert, könnten die italienische Wassergeschichte durchaus illustrieren – allerdings ist es eine Geschichte, die noch darauf wartet, aufgeschrieben zu werden.
Etwas oberhalb der Spanischen Treppe und der Straßen mit den elegantesten Boutiquen Roms schließt ein Hausmeister der römischen Wasserwerke eine unscheinbare weiße Tür auf, und von einem Moment zum anderen gelange ich in eine völlig andere Welt. Nur erhellt von der kräftigen Taschenlampe des Hausmeisters steige ich über eine Wendeltreppe in die dunkle Tiefe. Wir befinden uns in einem Zugang zum Aquädukt Acqua Vergine, dessen Bau sich im Jahr 19 v. Chr. unter dem lateinischen Namen Aqua Virgo vollendete. Dieser beruht auf einer Legende: Durstige römische Soldaten baten ein junges Mädchen um Wasser. Es führte sie zu einer Quelle, die später zum Ausgangspunkt des Aquädukts wurde. Die Quelle der Jungfrau erhielt zu Ehren des Mädchens den Namen Aqua Virgo (Wasser der Jungfrau). Der Aquädukt war20 Kilometer lang, hatte ein Gefälle von vier Metern und lieferte circa 100 000 Liter Wasser pro Tag. Im 8. Jahrhundert wurde er auf Geheiß Papst
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